Seelsorge im Gefängnis

"Es reicht nicht, Schuld zu rächen"

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Diakon Goritzka vor der JVA Bremen
Nachweis

Foto: Christof Haverkamp

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Richard Goritzka, Ständiger Diakon, ist seit 15 Jahren Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt in Bremen-Oslebshausen.

Richard Goritzka ist gern im Gefängnis – als Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt Bremen. Er spricht mit verurteilten Mördern, Betrügern und Sexualstraftätern. Kann er da noch an das Gute imMenschen glauben? Unbedingt, sagt der hauptamtliche Diakon.

Je näher das Ende seiner Haftzeit rückt, desto schwerer wird die Last auf den Schultern. Auf den Mittfünfziger, einen türkischstämmigen Muslim, wartet draußen in Freiheit niemand mehr: keine Frau und keine Kinder, kein soziales Umfeld. „Er hat alles verloren. Eine riesige Leere tut sich vor ihm auf“, sagt Richard Goritzka. Der katholische Seelsorger in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bremen kann ihm den Druck nicht nehmen. Nur Wege aufzeigen, damit umzugehen.

Er nimmt ihn mit in die „wunderbare Anstaltskirche“, die das Zentrum des im neogotischen Stil errichteten Haftgebäudes aus dem Jahr 1874 bildet. Der Gefangene schaut sich staunend um. Und Richard Goritzka lächelt, weil er ahnt, wie der große Kirchenraum auf einen Menschen wirken muss, der seit Jahren nur Enge erlebt. „Dort kann man aufatmen, das tut gut.“

Der Inhaftierte malt gern, stellt sich im Gespräch heraus. Und er wünscht sich so dringend eine Hand, die ihm hilft, ihn hält. Ein schöner Gedanke, findet Goritzka. Beide formulieren daraus ein Gebet: „Gott, ich brauche eine Hand. Amen.“ Kurz und knapp. Außerdem soll ein Bild entstehen – von einer Hand, die sich dem verurteilten Straftäter entgegenstreckt. Der Seelsorger wird dem Hobbymaler also ein großes Stück Tapete besorgen, Pinsel und Farbe, und alles in die Kirche bringen.

Bis heute ein entschiedener Gegner der Todesstrafe

Richard Goritzka hat viele solcher Ideen. Zum Weihnachtsgottesdienst beispielsweise bringt er Tonscherben mit. Inhaftierte legen sie vor der Krippe ab – als Zeichen für Verletzungen, die sie selbst erlebt oder anderen zugefügt haben. „Unsere Liturgie hat eine reiche Symbolwelt anzubieten für all das, was Menschen selber nicht zur Sprache bringen können“, sagt er. Seit 15 Jahren ist der hauptamtliche Diakon mit 75 Prozent seiner Stelle in der JVA Bremen-Oslebshausen tätig, seit 2022 zusätzlich in der Haftanstalt Bremerhaven.

Schuld und Gerechtigkeit – diese Themen begleiten den 65-Jährigen schon lange. Zuerst als Religionslehrer an einer Berufsschule, aber auch privat. Acht Jahre schreiben sich Goritzka und ein Todeskandidat in Texas Briefe. Der US-Amerikaner wird wegen eines Raubmordes, den er als 19-Jähriger begangen hatte, 1999 hingerichtet. Bis heute bewahrt Goritzka die Briefe auf, und bis heute ist er ein entschiedener Gegner der Todesstrafe. Weil ihn die Frage umtreibt: Wie kann man mit Schuld und Strafe so umgehen, dass das Ganze auch Sinn macht für den, der in einer schwerwiegenden Weise schuldig geworden ist? „Es reicht ja nicht, Schuld zu rächen, sondern es muss um Versöhnung und eine Form des Umgangs mit Schuld gehen.“

Gefängniskirche Bremen
Richard Goritzka in der Kirche der JVA Bremen. Foto: Christof Haverkamp

Beim Katholikentag in Mainz 1998 kommt Pastoralreferent Goritzka an einem Stand auf der Kirchenmeile mit Gefängnisseelsorgern ins Gespräch und erkennt: Das wäre auch etwas für ihn. Doch bevor sich für den gebürtigen Bremer eine Gelegenheit in seiner Heimatstadt ergibt, sammelt er erste Erfahrungen in der Gefängnisseelsorge in Aurich und Emden.

Seelsorgliche Gespräche über Schuld, sagt Goritzka, spielen im Gefängnis kaum eine Rolle. Da das Thema auf sachlicher Ebene von Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft und Gutachtern intensiv bearbeitet wird, kommt es zu einer „gewissen Sättigung“. Der Seelsorger hinter Gittern ist zunächst einmal ein Sorger, der Zeit mitbringt und zuhört. Manchmal gibt es auch Kaffee und Tabak. „Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht instrumentalisieren lasse.“ Was es heißt, Schuld auf sich geladen zu haben, kann nur zur Sprache kommen, „wenn der Täter verstanden hat, dass es neben der juristischen Aufarbeitung auch eine persönliche Annahme der Schuld braucht“. Das dauert oft Jahre. 

Die Gesellschaft ist hinter den Mauern keine andere als vor den Mauern.

Ende September geht Richard Goritzka in den Ruhestand. Im Laufe seiner Dienstjahre, stellt er fest, hat sich einiges verändert. Die Sicherheitsvorschriften zum Beispiel sind verschärft worden. Jetzt gibt es eine Anmeldeliste, die vor dem Sonntagsgottesdienst überprüft wird. Eine zweite Sache: Gefangene bitten seltener von sich aus um Gespräche zu religiösen Themen. Vor der Corona-Pandemie, erklärt Goritzka, habe er fast jedes Jahr jemanden getauft. Taufbewerber bereitet er etwa zwölf Monate lang vor. „Wir lesen zusammen das Markusevangelium und kommen darüber ins Gespräch. Man muss sich schon ernsthaft auf den Weg machen wollen.“ Das sinkende Interesse an Religion im Gefängnis, so sieht es der Seelsorger, spiegelt das Leben draußen wider. „Die Gesellschaft ist hinter den Mauern keine andere als vor den Mauern.“

Glaubt er eigentlich noch an das Gute im Menschen? „Unbedingt“, sagt er. „Wenn ich nicht daran glauben würde, dass jeder Mensch im Kern die Sehnsucht nach dem Guten in sich trägt, könnte ich meine Arbeit beenden. Wir sehnen uns alle danach, innerlich heil zu sein.“ Dort, wo diese Sehnsucht verletzt oder infrage gestellt wird, etwa durch ein Gerichtsurteil, geraten Menschen in eine tiefe Krise.

Früher war Richard Goritzka der Meinung, der Mensch sei in erster Linie ein Individuum, der sein Schicksal steuert. Im Gefängnis hat er erfahren: „Wir sind zwar Individuen, vor allem aber Sozialwesen: Teil der Gesellschaft, Teil eines Teams, Teil einer Familie, in der wir aufwachsen und die uns prägt.“

Trotz langer Haft schaffen es Menschen, „ihre Tat in ein Leben einzuordnen, das wieder eine neue Perspektive hat“. Goritzka berichtet von einem Mann, der 36 Jahre in geschlossenen Einrichtungen verbrachte – die ersten Jahre in einem Geschlossenen Jugendwerkhof in der DDR, die berüchtigt waren für schwere Verstöße gegen die Menschenrechte. Nach dem Mauerfall rutschte er in die Kriminalität ab. Dass er heute ein relativ normales Leben führt, liegt auch daran, dass er weder vom Alkohol noch von Drogen ist. Die Drogensucht, sagt Goritzka, sei ein „Kampf gegen Dämonen, leider mit hoher Rückfallquote“.

Anja Sabel

Die JVA Bremen verfügt über zwei Standorte, einerseits mit dem geschlossenen Erwachsenenvollzug, der Untersuchungshaft (männlich) und dem Jugendvollzug, andererseits mit dem Offenen und dem Frauenvollzug. Die ältesten Häuser wurden 1874 errichtet, mit einer großen Kirche im Zentrum. Zurzeit wird umfangreich saniert. In Bremerhaven existiert eine weitere Vollzugsanstalt. Insgesamt sind es 717 Haftplätze (Stand 2024). Zwei christliche und ein muslimischer Seelsorger arbeiten dort in ökumenischer Verantwortung.