Evakuierung der ostpreußischen und schlesischen Bevölkerung im Januar 1945

Flucht durch die Hölle

Image

Erst in letzter Minute gestattete die NS-Führung im Januar 1945 die Evakuierung der ostpreußischen und schlesischen Bevölkerung vor den heranrückenden Truppen der Roten Armee.


Die Bilder wollen Pater Eduard Prawdzik von den Steyler Missionaren nicht aus dem Kopf gehen. Obwohl die schrecklichen Ereignisse mehr als 70 Jahre zurückliegen. Es sind die Bilder von Bomben, Tieffliegern, zerfetzten Menschenleibern und verendeten Pferden, die mit schwerer Last im Straßengraben zusammengebrochen waren; sie lassen den Ordensmann, der 1935 geboren wurde, bis heute nicht los.
Der Massenexodus ihrer Landleute aus Schlesien und Ostpreußen ist bis heute ein Brandmal im kollektiven Bewusstsein der Deutschen, eine vernarbte Wunde, die von Zeit zu Zeit zu pochen beginnt und die Betroffenen oft genug zum Weinen bringt. Die Sehnsucht nach ihrer Heimat geht oft Hand in Hand mit unterdrückten Schamgefühlen angesichts monströser Verbrechen, derer sich Teile der Wehrmacht und Einsatzgruppen der SS in der Sowjetunion schuldig gemacht haben. Und doch sehen sich die Vertriebenen bis heute in der Rolle eines Sündenbocks. Denn am Ende mussten sie allein für das büßen, was Bayern, Westfalen, Sachsen und Saarländer seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 dort angerichtet hatten.

Vergewaltigungen und Luftangriffe
Erschreckend sind die Einzelheiten, die Zeitzeugen über die Massenflucht der Deutschen berichtet haben. Nur wenige Frauen waren nach dem Krieg in der Lage, von ihrer Vergewaltigung durch einen Rotarmisten zu berichten. Die Scham belastet sie bis heute, hat in vielen Fällen zu psychischen Störungen und dauerhafter Bindungsunfähigkeit geführt. In den prüden 50er Jahren  war es ein Tabu, über solche Dinge zu sprechen.
Das Schreien der Verletzten und das Wimmern der Erfrierenden auf der Flucht kann wohl kaum jemand nachempfinden, der es nicht selbst erlebt hat. „Vor allem die Frauen und Kinder konnten sich oft nicht helfen, erfroren jämmerlich bei minus 20 Grad und mehr“, sagt Eduard Prawdzik. Ständig mussten die Fliehenden bei ihrem Marsch über das Frische Haff, einem der schönsten Strände Europas, mit sowjetischen Luftangriffen rechnen. Die russische Militärführung ging davon aus, dass sich zwischen den Flüchtenden auch Wehrmachtsangehörige befanden.
Als sich Ende Januar 1945 die Bewohner Schlesiens und Ostpreußens auf eine ungewisse Marschroute gen Westen machten, herrschte eisiger Winter. Die Straßen waren vereist und es lag meterhoher Schnee. Briten, Franzosen, Amerikaner und Russen waren zum damaligen Zeitpunkt noch Verbündete, arbeiteten Hand in Hand beseelt von dem Gedanken, Hitlerdeutschland in die Knie zu zwingen. „Viel hilft viel“, dachten sich russische Militärs und setzten die deutschen Stellungen unter wochenlanges Artilleriefeuer. Die Amerikaner sorgten derweil über die Türkei  für nahezu unbegrenzten Nachschub. Am Ende waren ganze Landstriche verwüstet, Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und der Region auf Jahrzehnte die Basis für einen wirtschaftlichen Wiederaufbau genommen. Bis heute gelten Teile Schlesiens und die Region Kaliningrad nach Albanien als ärmste Region Europas. Vor allem auf dem Land leben viele Menschen noch immer ohne Wasseranschluss und manchmal ohne Strom. Der Alkohol ist in vielen Dörfern des Oblasts Kaliningrad ein ständiger Alltagsbegleiter.
Immer wenn Eduard Prawdzik, der mehrere Jahre als katholischer Seelsorger in Kaliningrad gearbeitet hat, am Strand an jener Stelle steht, wo er, seine Mutter und die beiden Brüder im Winter 1945 vor den heranrückenden Sowjettruppen zu Fuß und auf einer der letzten Fähren Richtung Dänemark geflohen sind, läuft dieser schreckliche Film vor seinen Augen ab. „Von dort oben sind wir die Böschung herunter geschlittert“, sagt Prawdzik. In den Büschen lagen Tote und an den Bäumen hingen menschliche Gliedmaßen. Noch immer sieht die Stelle so aus wie sie Eduard Pradwzik in Erinnerung behalten hat. Selbst der kleine Trampelpfad, den Flüchtlinge Jahrzehnte zuvor in panischer Angst vor den russischen Truppen auf dem Weg zum Strand genommen haben, ist noch so wie im Januar 1945.
Meist nahmen die Flüchtlinge nur das mit, was sie am Leib hatten oder gerade tragen konnten. Dass die Russen im Anmarsch waren, hatte sich schnell per Mundpropaganda herumgesprochen, derweil die lokalen NS-Größen weiter auf Durchhalteparolen setzten. Doch Familie Prawdzik hatte ihren Nachbarn schon immer mehr geglaubt als dem großspurigen Gehabe des Blockwarts. Und irgendwann mussten auch sie dann Hals über Kopf ihre Habseligkeiten zusammenraffen. Jeder mit einem kleinen Rucksack, die Mutter mit dem damals zweijährigen Bruder an der Hand, der später in einem Flüchtlingsheim in Dänemark starb, marschierten sie los, hinein in die Eiseskälte. Der Vater galt als kriegsverschollen.

Kriegsverschont bis Mitte des Jahres 1944
Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass die deutschen Ostgebiete in den Krieg hineingezogen werden würden. Die NS-Propaganda unter ihrem Gauleiter Erich Koch, der nach dem Krieg zum Tode und später zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, in der er 1986 vergessen starb, hatte in dieser Hinsicht ganze Arbeit geleistet. Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion hatte der Warthegau, Schlesien und Teile Ostpreußens als Versorgungsbasis für die in Leningrad kämpfende Wehrmacht gedient.
Noch im Juli 1944 fuhren die Gutshöfe friedlich die Ernte ein. Im August erlebte Königsberg seinen schlimmsten Luftangriff durch britische Bomber. Seit der deutschen Niederlage bei Stalingrad im Februar 1943 herrschte gespannte Ruhe. Wohl ahnend, dass die Front immer näher rückte und die Tage der Ostgebiete gezählt sein würden. Doch wollte das kaum jemand wahrhaben, zumal es verboten war, darüber zu sprechen. Auf das Hören feindlicher Sender, deren deutschsprachige Programme den Deutschen reinen Wein einschenkten, stand die Todesstrafe. „Praktisch erst in letzter Minute durften wir unser Gebiet verlassen“, erinnert sich Eduard Prawdzik. Als es fast schon zu spät war, als die Russen mit ihren Stalinorgeln, Panzern und Haubitzen in Hör- und Sehweite Königsbergs standen.

Festung: Zehn Wochen hielt Königsberg stand
Am 24. Januar 1945 wurden Königsberg und Teile Schlesiens von Gauleiter Erich Koch zur Festung erklärt. Das klang nach großer Widerstandskraft und machte auf die sowjetischen Angreifer einen gewissen Eindruck. Tatsächlich mussten sich nur 35 000 Verteidiger gegen 250 000 russische Angreifer zur Wehr setzen.
Zehn Wochen hielt Königsberg durch. Das Leben in der schon größtenteils in Trümmern liegenden Stadt verlief gespenstisch normal: Der öffentliche Verkehr und die Versorgung mit Lebensmitteln waren weitgehend intakt - bis am 30. Januar 1945 die Rote Armee unerwartet in Methgethen, einem Vorort Königsbergs einmarschierte. Die Bewohner wurden buchstäblich im Schlaf überrascht. Damit war auch das letzte Schlupfloch nach Westen verloren. Wenige Tage später gelang es der Wehrmacht, unter ihren Kämpfern der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, einen schmalen Korridor wieder freizukämpfen und einige Wochen offenzuhalten. Damit ermöglichte sie Tausenden Königsbergern zu entkommen.
Ende März war klar, dass der endgültige Sturm auf Königsberg unmittelbar bevorstand. Den 1. April – es war der Ostersonntag – erlebten die letzten 130 000 in Königsberg verbliebenen Menschen noch einmal ruhig. Sie krochen aus ihren Kellern und schlenderten durch die zerstörte Stadt. Doch sie täuschten sich. Am 6. April griff die Rote Armee zur Entscheidungsschlacht an. Stalinorgeln setzten die Stadt unter stundenlangen Dauerbeschuss. Bomber pflügten die Trümmerberge nochmals um. General Lasch kapitulierte, als am Abend des 8. April 1945 plötzlich sowjetische Soldaten vor seinem Gefechtsbunker auftauchten.

Erschießungen, Folter und Plünderungen
Für die Bewohner Königsbergs begann nun die Apokalypse. Die Rotarmisten nahmen grausame Rache und keiner ihrer Offiziere wollte oder konnte das verhindern. Es kam zu willkürlichen Erschießungen, Massenvergewaltigungen und bestialischen Folterungen an wehrlosen Zivilisten. „Alles was wir tagsüber sahen, hatte uns so entsetzt, dass niemand mehr ein Wort sprechen konnte. Aber was wir nachts hörten, erschütterte uns umso mehr. Schreie, Hilferufe, Schüsse und Jammern“, erinnert sich Michael Wieck in seinem Buch „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“. Als Jude hatte Wieck Naziterror und Holocaust überlebt, nun geriet er in die Hölle derer, die er eigentlich als Befreier ersehnt hatte.
Und als sich das Chaos ausgetobt hatte, kamen die Seuchen. Typhus, Ruhr. Und der Hunger. Die Trümmerwüste Königsberg, als riesiges Internierungslager abgeriegelt, wurde zum Massengrab. Als 1948 die letzten Deutschen aus der nun schon Kaliningrad heißenden Stadt deportiert wurden, waren von knapp 110 000 Menschen am Tag der Kapitulation noch 15 000 am Leben.

Von Benedikt Vallendar