Der Hallenser Historiker Manfred Hettling über den Drang, Straßen umzubenennen und Denkmäler zu beseitigen

Geschichte gibt es nur als Ganzes

Gegenwärtig gibt es deutschlandweit den Drang, Straßen umzubenennen und Denkmäler zu beseitigen. Der Hallenser Historiker Manfred Hettling sieht diese Entwicklung skeptisch. Er verweist dabei auf die demokratische Traditionsbildung.


Warum gibt es derzeit einen so großen Drang, Straßennamen und Denkmäler auf politische und historische Unzulänglichkeiten zu prüfen und Namen von Straßen zu ändern beziehungsweise Denkmäler zu beseitigen oder zu zerstören?

Hier kommen zwei Trends zusammen. Zum einen die seit Längerem zu beobachtende Intensivierung von Symbolpolitik – alles muss auf Bilder, Labels, Zeichen gebracht werden, die für Identitäten stehen sollen, und eine Pluralisierung – immer mehr Teilgruppen reklamieren in immer lauteren Tönen ihre eigenen Symbole als die wichtigsten.

Der Soziologe Harald Welzer spricht hinsichtlich der Motivation der „Bilderstürmer“ von einer gegenaufklärerischen und geschichtslosen Sichtweise in der Gegenwart, deren Bedürfnis nach politischer Korrektheit. Er verbindet damit totalitäres Denken und dessen „Reinheitsvorstellungen“. Wie denken Sie darüber?

Diese und die gegenwärtige „mediale Aufregung“ um die Umbenennungen ignoriert das historische Gewachsen sein und die Komplexität von Vergangenheit. Geschichte ist immer auch „schmutzig“, aber zugleich gibt es Geschichte nur als Ganzes. Das wurde schon vor 50 Jahren als Kritik gegen Gustav Heinemanns Bevorzugung der Erinnerung auf die „freiheitlichen Bewegungen“ artikuliert. Die derzeitigen Änderungen von Straßennamen und Beseitigung von Denkmälern sind vor allem Versuche, erhaltene Spuren der Geschichte von Verstörendem zu säubern und sich auf die „guten“ Seiten zu stützen, die dann einfach zur Bestätigung heutiger Überzeugungen beansprucht werden können.

Was ist die Funktion von Denkmälern?

Denkmäler heben etwas hervor. Damit wählen sie immer aus. Sie machen also heute etwas sichtbar, was früher betont werden sollte. Sie präsentieren nie die gesamte Vergangenheit. Doch vor allem in der Differenz zur Gegenwart liegt ihr Reiz, und liegt ihr Erkenntnispotenzial. Erkennen, wie sich die Wirklichkeit und die Zustände verändern, aus denen wir geworden sind, wie wir sind. Sehen und wahrzunehmen, um die Vergangenheit verstehen zu können. Erkenntnisse für die Gegenwart daraus gewinnen. „Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen“, schreibt Friedrich Nietzsche in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Es geht nicht darum, eine gegenwärtige Vergangenheit so zu gestalten, wie wir uns wünschen , dass es gewesen wäre. Das führt nur zum bemühen, „sich gleichsam a posteriori (nachträglich) eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte.“ Wir sollten wieder lernen, aus dem Gewordensein Selbstbewusstsein zu entwickeln, ohne dabei stehenbleiben zu wollen – und nicht in der pubertären Haltung zu verfallen, unsere Vergangenheit als ‚peinlich‘ zu bezeichnen und zu verbergen.

Woher kommt die Vielzahl an Denkmälern?

Lange Zeit wurden säkulare Denkmäler nur für Fürsten als Herrscher errichtet. In der Neuzeit entstand die Vorstellung, dass Denkmäler den Verdienst einer Person hervorheben sollten. Diese „Moralisierung“ der Denkmalsidee brachte gewissermaßen den Bürger auf den Denkmalssockel. Nicht das Amt und die Herrschaftsfunktion, sondern die Person und ihr Verdienst wurden gewürdigt. Bis dahin wurden nur Adligen Denkmäler errichtet. Das Lutherdenkmal in Wittenberg war das erste freistehende Standbild für eine nichtadlige Person im öffentlichen Raum (1821), das Francke-Denkmal in Halle 1828 das zweite. Dieses neue Verständnis von Denkmälern setzte sich schnell durch, es kam zu einer „Revolutionierung“ der Denkmalspraxis, zu einer Flut von Monumenten im 19. Jahrhundert. Schon bald sprach man deshalb von einer „Denkmalswut“ und kritisierte die Vielzahl an Standbildern, die zu einer Denkmalsseuche geführt hätten.

Wer hat Interesse an den aktuellen Umbenennungen?

Vorschläge für Umbenennungen werden immer von Teilen der Gesellschaft artikuliert. „Zivilgesellschaft“ ist ebenso ein Kollektivbegriff wie „Volk“. Minderheiten beanspruchen dann, für die Allgemeinheit (aber für welche?) zu sprechen. Und in der heutigen Ära der „Identitätspolitik“ reklamiert man damit das moralische Selbstverständnis der Allgemeinheit, eben ihre „Identität“ zum Ausdruck zu bringen.

Wer entscheidet über die Errichtung eines Denkmals?

Die Errichtung von Denkmälern ist in Deutschland schon seit dem frühen 19. Jahrhundert vielfach ‚von unten‘, im Rahmen kommunaler Selbstverwaltung und durch eigens dafür gegründete Vereine betrieben worden, bis 1918 in Konkurrenz zu monarchischen Denkmalsstiftungen von oben. Gerade in den vielen Denkmalen an die NS-Opfer hat sich seit den 1970er Jahren ein Verfahren bewährt, das auch auf Initiativen von unten, auf Öffentlichkeit und Diskussion mittels    Ausschreibungen und Wettbewerben setzt. Dieser rechtsstaatliche Rahmen ermöglichte gesellschaftliche Teilhabe und Initiative, auch in kontroversen Fällen, derer es viele gab. Man kann deshalb von einer „Legitimation durch Verfahren“ sprechen. Der liberale Staat ermöglicht seinen Bürgern einen weiten Gestaltungsraum, dafür aber müssen sie sich an die gesetzlichen Regeln halten. Ungeregelte Denkmalsstürze oder Appelle dazu zerstören diese Grundlage und sind immer populistisch, weil beansprucht wird, für ein Kollektivgebilde oder die richtige Gesinnung zu handeln.

Sollen die beseitigten beziehungsweise zerstörten Denkmäler durch neue, „eigene“ ersetzt werden?

Erst einmal wäre ich vorsichtig beim Zerstören. Das Wissen um das eigene Gewordensein vermittelt auch ein wenig Demut gegenüber zukünftig möglichen Sichtweisen, die sich von den heutigen wiederum unterscheiden können. In der Bundesrepublik hat sich statt dessen die Erhaltung umstrittener Denkmäler und ihre Kommentierung durch die Nachgeborenen in der Form von Gegendenkmälern bewährt. Ein gelungenes Beispiel ist das Ensemble am Hamburger Dammtor-Bahnhof. 1936 wurde dort das Denkmal des Infanteriedenkmals 76 für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs errichtet, auch aus Protest gegen das 1930 vom sozialdemokratischen Senat vor dem Rathaus errichtete Denkmal (eine Stele mit einem Relief von Barlach), das vielen als zu unheroisch erschien. Ein rechteckiger Block zeigt ein umlaufendes Relief mit einer marschierenden Soldatenkolonne. Eine Zeile aus dem „Soldatenabschied“ von Arbeiterdichter Heinrich Lersch eingraviert: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“. Nach längeren Diskussionen wurde von der Kulturbehörde des nun wieder sozialdemokratisch regierten Hamburg ein von Alfred Hrdlicka gestaltetes Gegendenkmal in Auftrag gegeben. Es sollte ursprünglich aus vier Teilen bestehen, die vier exemplarische Leiden des Krieges darstellen, aber wegen Geldmangel und Streit wurden nur zwei Mitte der 1980er Jahre fertig. Seit 2015 befindet sich dort ein weiteres Denkmal für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz.

Was wünschen Sie sich in der zukünftigen Debatte um die Umbenennungen und Beseitigungen?

Mehr Gelassenheit. Wir können die Geschichte nicht mehr ändern. Die Vergangenheit ist in ihrer Gebrochenheit, ihrer Komplexität, auch mit ihren Unzulänglichkeiten und Ambivalenzen auszuhalten. Wer Geschichte auf das reduzieren will, was als direktes Vorbild für die Gegenwart geeignet ist, will durch eine ideologisch gestaltete Brille sehen, auch wenn die demokratische Gegenwart das Gestell ist. Wir können einen Dialog über unsere Geschichte führen, gerade in ihrer Sperrigkeit gegenüber unserem Heute – und sollten nicht versuchen, die Vergangenheit zu belehren oder zu verbessern.

Interview: Constanze Wandt