Jüdisches Leben in Deutschland

Heimatkunde, die irritiert und versöhnt

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Wer zurückblickt, macht sich nicht nur Freunde. Diese Erfahrung macht Bernhard Gelderblom, der in Hameln die Geschichte der NS-Zeit erforscht und vor allem die Opfer in den Blick nimmt. Ein dunkles Kapitel, über das viele am liebsten schweigen möchten.


Bernhard Gelderblom erforscht seit 40 Jahren die Zeit
des Nationalsozialismus in Hameln und hat dabei
ganz besonders die Opfer im Blick.

„Tiefenbohrungen“ ist ein Wort, das im Gespräch immer wieder fällt. Bernhard Gelderblom beschreibt mit diesem Wort, was ihn umtreibt seit fast 40 Jahren: Nicht an der Oberfläche kratzen, sondern der Geschichte auf den Grund gehen. Das ist nicht immer einfach in einer Stadt wie Hameln, die gern den Blick in die Vergangenheit richtet, wenn die Sage vom Rattenfänger rauf und runter erzählt wird, weil es dem Tourismus dient. Wo aber lange geschwiegen wurde bei einem ganz anderen, unrühmlichen Kapitel: Judenverfolgung, Zwangsarbeit, Aufmärsche auf dem nahen Bückeberg. Täter, Mitläufer, Opfer. Was Gel­derblom da in langwierigen Recherchen zusammengetragen und veröffentlicht hat, passt vielen nicht ins Bild von der herausgeputzten Stadt an der Weser mit ihren vorbildlich sanierten Straßenzügen.

Muss das denn sein? Ja, ist Bernhard Gelderblom überzeugt, totschweigen ist nicht nur die nachträgliche Verhöhnung der Opfer, sondern hilft auch den Kindern und Enkeln der Täter nicht weiter. Und darum verbringt er einen großen Teil seines Lebens in Archiven, spricht mit Zeitzeugen, geht Schicksalen auf den Grund. Tiefenbohrungen also.

Familiengeschichte als Antrieb

Was ihn antreibt? Die eigene Familiengeschichte spielt eine wesentliche Rolle: „Mein Vater war überzeugter Nationalsozialist, unterstützte als deutscher Beamter im bis 1939 polnischen Westpreußen, in Schwetz an der Weichsel, die Germanisierung des Landes“, erinnert sich Gelderblom. Er selbst, geboren 1943, sei geprägt von den elementaren Erschütterungen des Krieges und der Verunsicherung der Nachkriegszeit. Zu Hause wurde das Thema unter den Teppich gekehrt, „erst durch den Film ‚Bei Nacht und Nebel‘ über die Vernichtung der Juden in Auschwitz wurde mir, damals noch ein Schüler, das Ausmaß der Nazi-Verbrechen bewusst.“
 


Akribische Aktenrecherche und
persönliche Gespräche mit Opfern
und Angehörigen sind Grundlage
für etliche Veröffentlichungen, hier
eine Auswahl.

Was kann ich persönlich tun, dass sich so etwas nie mehr wiederholt?, ist die Frage, die Bernhard Gelderblom seitdem umtreibt. Er studiert Theologie, Politik und Geschichte, entscheidet sich bewusst gegen eine wissenschaftlche Laufbahn und wird Lehrer an einem Hamelner Gymnasium. „Meine Schüler haben mich be­stärkt, Geschichte nicht im Elfenbeinturm zu betreiben, sondern das historische Geschehen vor Ort in den Blick zu nehmen.“ Eine Art „Heimatkunde des III. Reiches“ entwickelt sich daraus.

Der erste Schritt: In den 80er-Jahren holt Gelderblom den jüdischen Friedhof von Hameln aus der Vergessenheit. Mitten in der Stadt liegt er, aber niemand interessiert sich für die Gräber, keiner will alte Geschichten wieder aufwärmen. Eine Broschüre stößt auf geteilte Meinungen: Skepsis, Anerkennung, Anfeindungen. „Geh doch nach Israel, du Jude“, schreibt jemand in einem anonymen Brief.

Beirren lässt sich Bernhard Gelderblom nicht, immer tiefer steigt er ins Thema ein – auch weil von Seiten der Stadt die Hamelner Zeit des Nationalsozialismus damals noch „so gut wie komplett“ ignoriert wird. Die Veröffentlichungen werden immer umfangreicher, mal geht es um die Geschichte der jüdischen Mitbewohner als Überblick, mal um Einzelschicksale wie das des Teppichfabrikanten Albert Blank. Dessen Unternehmen wurde im Zuge der sogenannten Arisierung eingezogen, Blank floh mit seiner Familie nach England und musste nach dem Krieg lange um seine rechtmäßige Entschädigung kämpfen. Stattdessen, so recherchiert Gelderblom, kommt mancher Täter bald wieder ungeschoren zu Amt und Würden.

Ein Überzeugungstäter der anderen Art

Wir sitzen im Arbeitszimmer unter dem Dach. Bücher bis unter die Decke, ein vollgepackter Schreibtisch. Nebenan noch ein Raum für Akten, Dokumente, Notizen als Ergebnis unendlicher Stunden in Archiven der umliegenden Kirchengemeinden und Ortschaften, der Stadt, des Landes. Akribisch arbeitet sich Bernhard Gelderblom durch die Unterlagen, geht immer neuen Spuren nach. Ein Überzeugungstäter der anderen Art. Jemand, der nachdenkt, bevor er präzise und leise antwortet, der zurückhaltend auf einem Hocker sitzt und die Hände auf den Knien faltet. Kaum vorstellbar, dass so jemand auch leidenschaftlich für seine Sache kämpfen kann, der bei offiziellen Gelegenheiten schon mal die Redezeit überstrapaziert, der die Dinge beim Namen nennt auch gegen Widerstände, Anfeindungen und spöttische Bemerkungen. Gelderblom würde es so nie sagen, aber wer sich umhört, bekommt den Eindruck, wie sehr sich die biblische Weisheit bestätigt vom Propheten, der wenig gilt im eigenen Land.

Dafür erfährt der Historiker im Gespräch mit Überlebenden („leider werden solche Begegnungen aus Altersgründen immer seltener“) und deren Kindern oder sogar Enkeln große Anerkennung, oft auch regelrechtes Aufatmen, dass sich jemand ihrer Geschichte annimmt und sie vor dem Vergessen bewahrt. „Archiv­arbeit ist wichtig, aber nur ein Aspekt. Natürlich brauche ich die historischen Fakten für meine Forschungen. Aber genau so wichtig sind die persönlichen Kontakte, die ich mit Angehörigen der Opfer führen kann – bei meinen Besuchen in Israel oder hier in Hameln“. Denn Gelderblom ist es gelungen, bei etlichen Reisen nach Osteuropa Vertrauen aufzubauen und einige der 10 000 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter aus Polen und der Ukraine noch einmal an die Weser zu holen.

Zwei Begegnungen sind ihm besonders in Erinnerung: Da war der Sohn, der das Grab seines Vaters suchte, ein politischer Häftling, ums Leben gekommen auf dem Todesmarsch von Hameln nach Rostock. „Als ich den Sohn zu einem Gedenkstein bei Bad Liebenwerda begleitete, sagte er, endlich habe er seinen Frieden finden können.“ Und da war die Tochter, deren  Vater im Hamelner Zuchthaus gehängt worden war – wegen schlimmster Kriegsverbrechen unter anderem in Auschwitz. Aber in der Familie lebte er in beschönigenden Legenden weiter. „Ich habe mit ihr hier in Hameln Orte aufgesucht, an denen Spuren ihres Vaters zu finden sind. Es war für sie unendlich schwer, die wahre Geschichte zu akzeptieren. Aber ihre Bereitschaft dazu hat mich sehr beeindruckt. So werden auch die Kinder der Täter letztlich zu Opfern. Auch sie haben ein Recht auf Trauer.“

Stefan Branahl