Interview mit Bischof Dr. Heiner Wilmer
„Ich bin dankbar für die Begegnungen!“
Im Interview mit der KirchenZeitung zieht Bischof Dr. Heiner Wilmer eine Zwischenbilanz nach verschiedenen Aktionen, zu denen er eingeladen hatte. Und er sagt, wie es im Bistum weitergehen könnte.
Sie sind vor Ihrer Weihe mit Jugendlichen gepilgert, Sie haben mit alten Menschen gesprochen, Sie sind im Bistum unterwegs, um mit den Hauptamtlichen in der Seelsorge zu sprechen, Sie haben die Aktionen „Schreib dem Bischof“ gestartet und zu den Regionaltreffen „Im Dialog“ eingeladen. Zu wie vielen Menschen hatten Sie in den letzten Monaten Kontakt?
Ich bin sehr vielen Menschen im Bistum begegnet, in den Dekanaten und in den Pfarreien. Ich habe sie nicht gezählt, aber es waren mehrere Tausend und mit ganz vielen habe ich gesprochen. Mit Domkapitular Martin Wilk besuche ich die Priester und die Teams in allen Dekanaten, in möglichst vielen Pfarreien. Dafür haben wir in diesem Jahr allein vierzig Tage geblockt. Ich möchte gern sehen und hören, was sie tun, wie es ihnen geht. Und dann waren noch vor meiner Bischofsweihe die sechs Tage, wo ich mit jungen Menschen im Bistum gepilgert bin. Diese Tage waren weitaus nachhaltiger, als ich mir das überhaupt vorgestellt hatte. Sie prägen mich bis heute. Ich habe eine ganze Reihe von Ideen und Erkenntnissen daraus gewonnen, die auch jetzt durch die Begegnung mit anderen – auch älteren Menschen – bestätigt werden.
Einer der Schwerpunkte war jetzt zu Beginn ihres Bischofsamtes die Aktion „Schreib dem Bischof“. Wie ist sie gelaufen?
Wir haben die Statistik noch nicht ausgewertet, aber es sind fast 1000 E-Mails und Briefe eingegangen. Ich bin überwältigt davon, wie viele Menschen mir geschrieben haben. Die Schlüsselfrage lautete ja: „Was geben sie mir, dem neuen Bischof, mit auf den Weg?“, „Wie können wir heute das Evangelium verkünden?“, „Was empfehlen Sie mir?“ Hier gibt es interessanterweise eine Verschiebung, eine Überraschung, die ich nicht für möglich gehalten habe. Mehr als sechzig Prozent der Menschen haben mir gar nicht auf diese Fragen geantwortet. Sie haben sich mir als dem Seelsorger anvertraut, haben mir aus ihrem Leben erzählt. Viele haben mir lange E-Mails und Briefe geschrieben. Viele nehmen auch Bezug auf mein Buch „Gott ist nicht nett“. Angeregt durch meine dort geschilderten persönlichen Erlebnisse erzählen nun sie mir ihre persönliche Lebensgeschichte – von Flucht, von Vertreibung, von schwierigen Familiensituationen, von Benachteiligung, von Krankheit. Sie erzählen mir, dass sie den Partner verloren haben, dass ein Kind behindert ist. Sie berichten, dass sie an der Kirche leiden, dass sie auf Veränderungen hoffen, es aber nicht schnell genug weitergeht mit den Reformen. Sie erzählen mir von ihrer interkonfessionellen Ehe und darüber, dass sie darunter leiden, wie die Kirche damals reagiert hat, als der evangelische Partner gezwungen wurde, die Kinder katholisch taufen zu lassen. Sie erzählen mir, wie sehr evangelische Ehepartner darunter leiden, dass sie in der katholischen Kirche nicht zur Kommunion gehen dürfen.
Gibt es da generationsspezifische Kritikpunkte?
Besonders Ältere fragen an: „Können Sie sich nicht für eine offene Diskussion einsetzen zum Thema Pflichtzölibat oder zur Rolle der Frau in der Kirche?“ Sie erzählen mir von ihrem Bedürfnis nach etwas, das sich nicht aufbraucht, von ihrem Bedürfnis nach einem etwas, das bleibt, das der Welt entzogen ist, nach etwas, das nicht einfach nur für die Nutzanwendung da ist. Ich glaube aus diesen Worten das Wort „heilig“ herauszuhören. Sie haben das Bedürfnis nach dem Heiligen, ohne es zu benennen. Da ist die große biblische Definition für das Heilige ganz interessant. Das Heilige ist das ganz andere, das ökonomisch oder mathematisch nicht kalkuliert werden kann, das nichts mit Geld oder Wirtschaft zu tun hat. Aber dieses Unnütze, das mir trotzdem so viel nutzt im Leben, das mir einen Raum gibt, eine Weite, eine Freiheit, die mich so sein lässt, wie ich bin mit meinen Ecken und Kanten. Es ist das Heilige, das mich umfasst, mir Geborgenheit gibt. Es geht im Grunde genommen um die große Sehnsucht der Menschen in der Schnelligkeit des Lebens nach einem Halt, nach Heimat, nach einem Dach über dem Kopf, nach einem Dach über der Seele.
War auch der Missbrauch ein Thema?
Natürlich wurde auch der Missbrauch angesprochen. Die Aussagen waren für mich sehr ermutigend. Immer wieder kam: „Bleiben Sie dran, wir sind bei Ihnen. Gewiss werden Sie Widerstand spüren und Gegenwind bekommen, aber bleiben Sie dran.“
Es gab ja auch die Befürchtung, dass in der Aktion „Schreib dem Bischof“ nicht das eigentliche Anliegen benannt wird, sondern dass Menschen sie nutzen könnten, um Dampf abzulassen. Gab es auch solche Rückmeldungen?
Angesichts der Flut an E-Mails und Briefen waren das die totalen Ausnahmen, sie spielten keine große Rolle. Kritik gab es an bestimmten Strukturen im Bistum, zum Beispiel daran, dass Gottesdienstzeiten nicht verlässlich sind. Ein weiterer Punkt betraf die Versetzung von Priestern. Mehrfach wurde angemerkt, dass Priester schon wieder wegmüssten, wenn man sich gerade an sie gewöhnt habe.
Wer hat Ihnen geschrieben, hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter, normale Gemeindemitglieder oder Kirchenferne?
Querbeet. Mir haben Frauen geschrieben, mir haben Männer geschrieben. Die weitaus meisten sind dabei nicht in einer Funktion wie Pfarrgemeinderat oder Kirchenvorstand. Das empfinde ich auch für mich als einen großen Vertrauensbeweis und als große Offenheit mir gegenüber. Und bezogen auf die Kirche und das Evangelium als eine große Sehnsucht, sich auch einzuschwingen in die Frage: „Wie können wir heute das Evangelium verkünden?“ Das ist ja auch meine Schlüsselfrage und: „Wie können wir heute unsere christliche Religion so leben, dass sie uns trägt?“ In diese Richtung geht oft die Frage von Älteren: „Wie kann ich das meinen Kindern weitergeben, meinen Enkelkindern?“
Gab es zwischen „Schreib dem Bischof“ Unterschiede zur noch laufenden Aktion „Dialog mit dem Bischof“?
Bei den Dialogtreffen wurde wiederholt die Kluft zwischen Glauben und Naturwissenschaft angesprochen – aber es kam auch in Briefen vor. Die Bitte wurde ausgesprochen, dass die Kirche dafür sorgen solle, im Religionsunterricht diese Themen so zu behandeln, dass die Jugendlichen auch in der Lage sind vernünftig zu argumentieren. Wichtig ist auch, dass wir insgesamt ein gutes Bibelwissen haben. Mir sagen Leute, viele Muslime kennen den Koran besser, als wir die Bibel. Das finde ich, ist ein Anliegen, dem wir nachgehen sollten.
Sie haben jetzt viele Ideen, Sorgen, Vorschläge und Anregungen bekommen. Wann werden diese Erkenntnisse in die praktische Arbeit einfließen?
Sie fließen schon ein. Das passiert schon jetzt parallel. Ich arbeite auf Hochtouren. Und die erste Aktion dazu fand bereits Anfang Januar in Bremerhaven statt, als wir uns dort mit dem gesamten Domkapitel und dem Bischöflichen Rat in einem Hostel einquartiert haben, einer ehemaligen US-amerikanischen Kaserne, in einem der ärmsten Stadtviertel Deutschlands. Ich wollte bewusst in einem Bereich, in dem Menschen in Not zu Hause sind, ein Zeichen setzen. Da haben wir angefangen, das, was die Menschen mir mitgeben, was ich selber wahrnehme, zu sortieren. Das haben wir unter dem Aspekt getan, welche Fragen die Menschen tatsächlich haben.
Ich glaube, wir sind in der Kirche häufig zu schnell mit den Antworten und kennen die eigentlichen Fragen nicht, die Themen der Menschen, ihre Nöte. Wir brauchen Energie und Kraft und auch eine Analyse, um ihre Fragen wirklich zu kennen. Und da haben wir bereits erste Linien entworfen. Ich möchte die leitenden Mitarbeiter, aber auch alle anderen im Bistum mit einbeziehen in einen Prozess, um zu entscheiden, welche Schwerpunkte wir setzen werden, um heute und morgen das Evangelium zu leben und zu verkünden.
Was heißt das konkret?
Ich schlage in meinem Fastenhirtenbrief vier Linien vor, Motive, die uns bei der Arbeit im Bistum leiten sollen. Der erste Punkt ist, dass wir über alles, was wir tun wollen und tun werden, ein zentrales Leitmotiv stellen wollen. Wir beginnen bei der Bibel. Wir müssen zurück zum ursprünglichen Dokument, zur Ur-Kunde, zur Quelle. Mein Bild ist hier die Kirche nicht als eine feste Burg, sondern eher wie eine Oase, an der es frisches Wasser gibt. Wir wollen wieder zur Oase, zum frischen Wasser, um, wie es in der Bibel heißt, die Ströme lebendigen Lebens fließen zu lassen.
Der zweite Punkt heißt „partizipativ“. Aus meiner Sicht ist die Zeit vorbei, dass die Entscheidungen von oben nach unten fallen. Wir brauchen einen Schulterschluss – nicht mehr gegenüber, sondern zusammen, Seite an Seite. Wir müssen schon von Anfang an gemeinsam schauen, wie wir den Prozess gestalten wollen, welche Schwerpunkte wir setzen, um uns dann gemeinsam auf den Weg zu machen. Manchmal versteht man gemeinsam so, dass einer die Entscheidung trifft, die Ziele festsetzt und sich dann Leute holt und sagt, wir machen uns gemeinsam auf den Weg. Nein, ich möchte von Anfang an die Menschen im Bistum in das Gespräch, in die Analyse, in die Auswertung, in den Prozess einbinden, auch in die Entscheidungsfindung und natürlich in die Umsetzung. Das ist Partizipation.
Der dritte Punkt ist Verbindlichkeit. Leute sagen, alle paar Jahre gibt es neue Projekte, neue Ideen mit hohen Erwartungen, die dann nicht erfüllt werden. Die Menschen sehnen sich nach einer Verbindlichkeit und wünschen sich: Denkt vorher ordentlich nach und dann machen wir uns auf den Weg und bleiben hoffentlich auch dabei.
Viertens ist wichtig, dass wir methodisch weiter in Orte der Glaubenserfahrung investieren. Ich höre aus den vielen Gesprächen, dass die Menschen sich danach sehnen, in ihrer Glaubenserfahrung ernst genommen zu werden, dass Glaube nicht nur eine Sache der Theorie ist, des Glaubenswissens, was man mal so lernt. Der Glaube ist heute nur dann lebbar, wenn er existenzielle Betroffenheit auslöst. Das sind vier Linien, die ich mir erlaubt habe, schon einmal vorzuschlagen aufgrund des vielen Materials, der vielen Gespräche.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie da nicht allein vorangehen, sondern viele mit Ihnen mitgehen?
Ich bin da sehr zuversichtlich. Es gibt eine große Offenheit. Doch, da gebe ich mich keinen Illusionen hin, es wird auch Hindernisse und Schwierigkeiten geben. Aber es ist gut, dass wir gemeinsam die Augen auf denselben Horizont richten: wie Zugvögel, die in Formation am Himmel fliegen, die sich gegenseitig unterstützen, sich gegenseitig ablösen, sich gegenseitig Energie geben, aber in dieselbe Richtung fliegen.
Wie lautet Ihre kurze Zwischenbilanz?
Ich bin sehr dankbar für jede einzelne E-Mail, für jeden Brief, für jede Begegnung, auch für die zufälligen auf der Straße. Das Vertrauen, das mir entgegengebracht wird, die Vorschläge und Fragen, die ich erhalte, sind ein großes Geschenk und eine besondere Erfahrung des Miteinanders und der Gemeinschaft.
Ich danke dem lieben Gott für die Art und Weise, die ich hier vorgefunden habe. Ich merke auch, wie die Menschen mich tragen und für mich beten. Das haben mir ganz viele Menschen geschrieben und schreiben es immer noch. Das hat mich tief berührt. Auch ich bete für die Menschen bei uns im Bistum. Abends, wenn ich ins Bett gehe, denke ich immer an das Bistum, an die Menschen und vor allem an jene, denen es nicht so gut geht, die in Not sind. Mein Lieblingsplatz hier im Bistum ist im Dom die kleine Seitenkapelle geworden mit der Pieta. Da sehe ich immer wieder Menschen, die hier knien, sitzen, still beten, Kerzen anzünden. Für mich ist dieser Ort eine Kraftquelle, eine Quelle des Trostes, der Zuversicht, der Hoffnung und auch der Solidarität geworden.
Interview: Edmund Deppe