Krankenwagen in die Ukraine überführt
„Ich habe keine Tränen mehr …“
Mariya Maksymtsiv (39), Frau des Pfarrers der ukrainisch unierten Gemeinde St. Wolodymyr in Hannover-Misburg, hat einen gespendeten Krankenwagen voll mit Medikamenten in die Ukraine überführt und ihren seit Kriegsbeginn kämpfenden Bruder an der Front besucht. Die achttägige Reise durch ihr altes Heimatland hat Spuren hinterlassen.
Den gebrauchten Krankenwagen hatte die Gemeinde St. Wolodymyr durch eine Spende von 25 000 Euro des katholischen St.-Ursula-Gymnasiums kaufen können. Für diese Summe hatten 1000 Schülerinnen und Schüler Spenden-Patenschaften für einen Marathon-Lauf eingeworben. Auch Mariyas Tochter Anna, die sich jetzt am St.-Ursula-Gymnasium auf ihr Abitur vorbereitet, war bei dem Spenden-Marathon mitgelaufen. Dank Geräte-Spenden des Arbeiter-Samariter-Bundes konnte der Krankenwagen komplett eingerichtet werden.
Bedingt durch Krieg und Corona hatte Mariya Maksymtsiv ihre Heimat zwei Jahre lang nicht sehen können. In der Nähe ihres Elternhauses waren Raketen eingeschlagen. Sie hatten einen Verteiler zerstört, sodass die Eltern zwei Tage lang keinen Strom hatten. Lviv liegt weit im Westen des Landes. Gekämpft wird im Osten und im Süden. Dennoch ist der Krieg allgegenwärtig.
Mariya Maksymtsiv berichtet: „In Lviv liegen Militärkrankenhäuser. Zwei- bis dreimal pro Woche kommen im Bahnhof Lazarettzüge von den Hauptverbandsplätzen an. Dann wird immer ein großer Teil des Bahnhofs abgeriegelt. 300 Krankenwagen warten auf die Übernahme der Verwundeten. Die Schwerverwundeten kommen gleich in Lviv ins Militärkrankenhaus, die leichteren Fälle werden in Krankenhäuser der Umgebung gebracht.“
Mariya Maksymtsiv überreicht den Autoschlüssel des Krankenwagens aus Hannover dem Leiter des Militärkrankenhauses. Der freut sich und zeigt sich tief bewegt. Die Pfarrersfrau bekommt eine Sondergenehmigung zur Besichtigung des Krankenhauses. Mariya Maksymtsiv sagt: „O Gott! O Gott! Da habe ich Bilder gesehen, die das Fernsehen nicht zeigt! Am meisten hat mich der Anblick von Menschen erschüttert, die schwer am Kopf verletzt waren, denen große Teile des Gehirns fehlten oder denen das halbe Gesicht weggerissen war.“ Mariya Maksymtsiv spendet im Militärkrankenhaus Blut und verteilt 5000 Euro an die Patienten.
„In Lvivs Garnisonkirche St. Peter und Paul finden jeden Tag zwei Beisetzungsfeiern statt. Und jedes Mal sind zwei bis fünf Särge mit Gefallenen aufgestellt. Nach der Feier fahren die Angehörigen in speziellen Bussen zu der sieben Kilometer entfernten „Mars-Wiese“, dem Friedhof für die Gefallenen. Alle Passanten, an denen die Busse vorüberfahren, knien sich nieder und bekreuzigen sich. Ich bin selber mitgefahren und habe Hunderte von Menschen knien sehen.“
Nach etwa 600 Kilometern Fahrt trifft Mariya Maksymtsiv ihren zehn Jahre jüngeren Bruder Maksym im rückwärtigen Bereich der Front. Er dient in einer Aufklärungseinheit. Die Spähtrupps schleichen sich an die russischen Linien heran, um mögliche Lücken zu entdecken, wo die Ukrainer dann erfolgreich angreifen können. Im Spätsommer hatte seine Kompanie schwere Gefechte im Raum Slowjansk zu bestehen. „Die Hälfte der Kompanie ist dabei gefallen“, sagt Mariya Maksimtsiv, „aber seine Einheit hat keinen Kameraden – ob verwundet oder tot – zurückgelassen!“ Gruppenbilder der Einheit zeigen ein Sammelsurium an Handfeuerwaffen unterschiedlicher Herkunft und Kaliber. Die Versorgung ist schlecht. Von den sieben Mann seiner Gruppe hat es nur für fünf Stiefel gegeben. Die anderen haben sich selbst welche kaufen müssen. Mariya Maksimtsiv hat für ihren „kleinen Bruder“ eine Splitterschutzweste, Thermo-Unterwäsche und noch ein paar Kleinigkeiten dabei. Bruder und Schwester weinen. „Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir uns lebend gesehen haben.“
Mariya Maksymtsiv sagt: „Als Christin soll ich vergeben. Ja, aber ich krieg’s nicht in mein Herz hinein! Ich habe die Bilder noch in meinem Kopf. Zum Beispiel die langen Gräberreihen auf der Mars-Wiese. Es sind alles junge Männer, die da beerdigt liegen. Da stehen junge Frauen und kleine Kinder, die von Mann und Papa Abschied nehmen. Und leider, leider ist es ja so, dass die große Mehrheit der Russen – auch hier in Hannover – voll und ganz hinter Putin und seinem Angriff auf uns Ukrainer steht! Ich bin ratlos und habe keine Tränen mehr.“
Tillo Nestmann