Israel

„Ich klammere mich an die kleinen, kostbaren Zeichen“

Image
Trauer in Israel
Nachweis

Foto: imago/UPI PHOTO

Caption

Trauer: Eine Frau und ein Mann trösten sich auf einer Beerdigung in Jerusalem.

Die grauenhaften Nachrichten aus Israel erschüttern die Welt. Wir haben sechs Menschen gefragt, die das Land gut kennen: „Wie kann es dort wieder Frieden geben? Was gibt Ihnen Hoffnung in dieser schrecklichen Situation? Was lässt Sie verzweifeln – und wie hilft Ihnen dann der Glaube?“

 

„Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die Hass ablehnen“

Der Angriff der terroristischen Hamas hat Israel unerwartet getroffen. Wir fragen uns: Wie können Menschen so unbarmherzig Jugendliche erschießen, die bei einem Musikfestival für den Frieden tanzen? Wie kann man derartig gewalttätig Familien mit kleinen Kindern in den Gazastreifen entführen und Raketen auf Israel abfeuern mit dem einzigen Ziel, Zivilisten zu ermorden? Die fundamentalistische Ideologie und der Hass, der daraus spricht, hat mich angewidert und schockiert. Im Buch Kohelet heißt es: „Alles hat seine Zeit, auch der Krieg.“ Diese Zeit ist leider jetzt. 

Als Reiseleiter habe ich viele Gruppen durch das Land geführt. Den Dialog mit Juden, Muslimen und Christen, Israelis und Palästinensern, Drusen und Beduinen empfand ich für alle als große Bereicherung. Mit vielen dieser Partner stehe ich während des Krieges in Kontakt, so etwa mit einem palästinensischen Freund aus der Nähe von Betlehem, dessen Haus fast von einer Rakete der Hamas getroffen wurde. Wir sind nicht immer derselben Meinung, aber wir machen uns Sorgen umeinander, unterstützen uns moralisch und lassen den Gesprächsfaden nicht abreißen. Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die wissen, dass es genauso auf der anderen Seite Menschen gibt, die Hass ablehnen und Konflikte künftig wieder über Dialog und Austausch lösen möchten. Das gibt mir Hoffnung und Halt.

Verzweifeln lassen mich Stimmen, die auch nach diesem schrecklichen Angriff Israels Recht auf Selbstverteidigung infrage stellen. Auch die ökumenische Stellungnahme der Patriarchen und Kirchenoberhäupter Jerusalems hat mich sehr enttäuscht. Sie haben alle Parteien zu einem umgehenden Ende der Gewalt aufgerufen – so, als sei die Ursache der Eskalation nicht ausschließlich der Terror der Hamas. 

Krieg ist immer schrecklich und im Krieg kommen immer Unschuldige ums Leben. Aber manchmal bedarf es Gewalt, um jene zu stoppen, die uns, unsere Art zu leben, zu lieben und zu beten von der Landkarte tilgen wollen. Damit wir anschließend etwas Neues und Friedliches aufbauen können.

Von Uriel Kashi | Der Autor ist deutschsprachiger Reiseleiter in Israel.

 

„Trotz aller Gewalt geben wir unsere Hoffnung nicht auf“

Wenn ich nach Laudes, heiliger Messe und Frühstück in unserer Schwesterngemeinschaft vor die Tür gehe und in den blauen Himmel über Jerusalem schaue, gibt es da nicht selten ein störendes Hintergrundgeräusch. Es ist das Surren der israelischen Kampfflugzeuge, die unterwegs sind zu Angriffen oder Aufklärungsflügen in Richtung Gazastreifen, oder man hört Detonationen des israelischen Raketenabwehrsystems. Auch nach mehreren Tagen werden wir uns nicht an diese Geräusche gewöhnen, weil sie jedes Mal klar machen, dass 70 Kilometer Luftlinie entfernt von uns Menschen um ihr Leben bangen. In dieser Zeit des Leerlaufs und der Unsicherheit ist mir in unserer Schwesterngemeinschaft die ganz normale Tagesstruktur aus Beten und Arbeiten eine Stütze. Die Gemeinschaft trägt, das gemeinsame Beten der Psalmen im Stundengebet gibt mir Halt. Das ist ein Trost und ein Segen. 

Wie mag es jetzt den 130 palästinensischen Kindern und deren Familien aus unserem Kindergarten St. Charles gehen? Ich bete und hoffe, dass es allen gutgeht und besonders unsere kleinen Schützlinge nicht die grausamen Bilder der Massaker rund um Gaza zu sehen bekommen. Trotz all der Gewalt, die das Heilige Land immer wieder bluten und aufschreien lässt, geben wir unsere Hoffnung nicht auf. 

Der Frieden beginnt im Kleinen, Friedenserziehung beginnt bei den ganz Kleinen. „Wenn ein Kind mit Feindseligkeit lebt, lernt es zu kämpfen. Wenn ein Kind mit Angst lebt, lernt es, besorgt zu sein.“ Aber: „Wenn ein Kind mit Toleranz lebt, lernt es, geduldig zu sein. Wenn ein Kind mit Freundlichkeit lebt, lernt es, dass die Welt ein schöner Platz zum Leben ist.“ Die Worte dieses Gedichts von Dorothy L. Nolte hängen am Eingang unseres Kindergartens. Sie sind uns Mahnung und Auftrag, dass Schlagen mit Fäusten oder Waffen unmenschlich ist und nur die Liebe und Erziehung zur Toleranz zu einem friedlichen Miteinander führen. Daran glaube ich und darauf hoffe ich fest mit Gottes Hilfe. 

Von Sr. M. Gabriela Zinkl SMCB | Die Autorin lebt als Ordensfrau im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem.

 

„Ich bitte Gott, dass er die Besonnenen stärke“

Ich war noch nie Blut spenden. Nach den Massakern am jüdischen Fest der Torafreude bin ich gegangen. Das dreistündige Schlangestehen mit Israelis aller Couleur hat mich bewegt. Der gemeinsame stille, unausgesprochene Wille, irgendetwas zu tun und wenn es nur das ist, ein bisschen vom eigenen Blut abzugeben. Trotzdem überwiegt das Gefühl der Hilflosigkeit und das Schaudern vor der entfesselten Brutalität, zu der Menschen fähig sind. Ich lebe im Krieg. Zwar bin ich, da ich im palästinensischen Ostjerusalem lebe, vor Raketen und Hamas-Attacken (noch) sicher. Trotzdem ist alles anders. Die Straßen sind leerer, viele Geschäfte bleiben geschlossen. 

Ich bin kein Israeli und ich bin kein Palästinenser, trotzdem habe ich mich entschlossen, jetzt hier zu bleiben. Ich lebe gern hier in den guten Tagen und kann nicht einfach gehen, wenn es schwierig wird. Das können die Menschen hier auch nicht – in diesem heilig-unheiligen Land. Ein winziges Zeichen der Solidarität mit meinen muslimischen, jüdischen und christlichen Mitbewohnern dieser wunderbaren und so gepeinigten Stadt. 

Die Aussicht auf Frieden, auf Versöhnung ist seit jenem Samstag utopischer als je zuvor. Die Spaltung wird sich vertiefen, der Hass wird sich steigern. Ich weine mit den israelischen Opfern des pogromartigen Grauens vom 7.10. und auch mit den zivilen Opfern in Gaza, die jetzt den Preis für den Wahnsinn der Hamas-Terroristen zahlen müssen. 

Nicht alle Palästinenser sind Sympathisanten dieser kalten Fanatiker. „Ich weiß, meine Worte ändern nichts und bedeuten wenig, aber es tut mir so unglaublich leid, was mein Volk eurem Volk antut“, schreibt ein junger Muslim aus Gaza an eine befreundete Israelin. Sie stellt den Gruß ins Internet. Ich klammere mich an diese kleinen, kostbaren Zeichen verbindender Menschlichkeit und bitte Gott, dass er die Besonnenen stärke, die Grausamen schwäche und dass die Hoffnung auf Frieden in mir nie erlischt. Trotz allem, trotz allem.

Von Stephan Wahl | Der Autor ist katholischer Priester und lebt in Jerusalem.

 

Trauerkerzen in Israel
Weltweite Anteilnahme: In New York zündet eine junge Frau Kerzen im Gedenken an die israelischen Opfer an. Foto: imago/ The News 2

„In meinen Träumen ist dieses Land ein Traum“

Nichts ist mehr so, wie es war. Der 7. Oktober, der Schabbat, auf den das jüdische Fest der Torafreude fiel, hat sich festgebrannt. Ein Bild, aufgenommen auf dem kultigen Dizengoff-Platz in Tel Aviv. Hunderte brennende Kerzen säumen den Brunnen. Jemand hat aus ihnen die Zahl 7.10.2023 geformt. Dahinter ein Schild, weißer Karton mit schwarzem Rand, wie eine Trauerkarte. „Nigmeru ha-Milim“, die Worte sind ausgegangen. Es gibt keine Worte, die das Entsetzen, den Schock und den Schmerz ausdrücken können. Kein Wort ist stark genug, die Abscheu zu erfassen: über die Gräueltaten, deren Ausmaß sich mit jedem Ort in der Nähe des Gazastreifens erschließt, den israelische Rettungs- und Sicherheitskräfte erreichen. Über die täglich steigenden Opferzahlen. Den Hass, den es früher schon gab, der im blutigen Morden aber einen Höhepunkt erreicht.

In meinen Träumen ist dieses Land ein Traum. Ein Ort, an dem Religionen verwurzelt sind. An dem der osteuropäisch-jüdische gefilte Fish mit jemenitisch-scharfer Zhug auf der Hochzeit von irakischen Kubbeh mit dem nahöstlichen Universalgericht Hummus tanzt. Ein Ort, an dem der Gott der Christen Allah heißt und so ziemlich jede Sprache der westlichen und orientalischen Welt gesprochen wird. Ein Ort, der täglich überrascht.

Auf die Überraschung des 7. Oktobers hätte ich gerne verzichtet und mit mir die Vielen, die an das unglaubliche Potenzial dieses besonderen Biotops glaubten. Glaubten, Vergangenheit. In der Gegenwart haben zu viele Tote und zu viel Gewalt diesen Glauben auf den Prüfstand gestellt. Ob er in Zukunft wiederkommen kann, weiß heute keiner. 

Kleine Funken Hoffnung bleiben. Da, wo eine Tochter, deren 84-jährige Mutter in den Gazastreifen entführt wurde, für ein echtes Friedensabkommen wirbt. Wo eine israelische Komikerin ihren Kampf für die Unschuldigen und für Gerechtigkeit fortsetzen will. Dort, wo der Vater einer entführten Tochter die weinenden Mütter auf der Gegenseite im Blick hat und nicht nur zwei Völker, sondern ein Schicksal sieht.

Von Andrea Krogmann | Die Autorin ist Journalistin in Jerusalem.


„Wie können wir Menschlichkeit beweisen?“

Wie bei einem alternden Baum legt sich in diesen Tagen ein weiterer Ring voller Tränen um die Geschichte des Nahostkonflikts, und leider wächst nicht der Frieden, sondern die Gewalt. Angesichts des bestialischen Überfalls der Hamas auf Israelis ist der Militäreinsatz mit dem Ziel, die Islamisten zu zerschlagen, nachvollziehbar und solidarisch zu unterstützen. Zugleich sollte uns als Christinnen und Christen die Lage der Zivilbevölkerung interessieren. Wie können wir Menschlichkeit beweisen?

Es ist unerträglich, das Leid der israelischen Opfer und Hinterbliebenen zu sehen. Gleichzeitig weite ich meinen Blick um ein Volk, das unter seiner islamistischen Führung leidet. 60 Prozent der Menschen Gazas sind so jung, dass sie beim Wahlsieg der Hamas 2007 noch gar nicht geboren oder wahlberechtigt waren. Für mich gehören auch diese Menschen in unsere Gebete. 

Gaza ist ein Ort der Hoffnungslosigkeit, ohne ausreichend Wasser, Strom und Nahrung. Ohne politische oder wirtschaftliche Perspektiven wird hier neues Unheil wachsen. Die Vereinten Nationen hatten schon für 2020 prognostiziert, dass Gaza „unbewohnbar“ sein würde. 

Umfragen zeigen, dass weder Israelis noch Palästinenser derzeit an Lösungen glauben. Künftige politische Eliten müssen sich für Verhandlungen einsetzen und zeigen, dass eine Zweistaatenlösung noch möglich ist. Solange es diese Politiker nicht gibt, finde ich meine Heldinnen und Helden auf den Straßen. Trotz der Krisen in den zurückliegenden Jahren traten in Israel immer viele Menschen und Nichtregierungsorganisationen für Mitmenschlichkeit ein, während auch in Gaza viel Normalität passierte: junge Menschen, die trotz der Aussichtslosigkeit Gutes schafften, Start-ups gründeten oder sich abends bei Tee und Wasserpfeife am Strand trafen. Das waren menschliche Geschichten, die mir zeigten, dass Hoffnung und Empathie existierten. Sie zeigen mir bis heute, dass zivile Konfliktbearbeitung existenziell ist, um einen Ausweg aus der Konfrontation zu finden.

Von Marc Frings | Der Autor ist Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und ehemaliger Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah im Westjordanland.

 

„Es wird viel Kraft brauchen, für Heilung einzutreten“

Frieden ist ein Geschenk Gottes. Dieses Geschenk steht für jeden Menschen bereit, egal welcher Religion er angehört. Frieden und Versöhnung sollte man in Kinderherzen ausstreuen – bei uns aber pflanzt man in die Herzen der Kinder seit Generationen Hass ein. Dazu kommen persönliche schlimme Erfahrungen, die Saat geht auf. Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit und die himmlischen Versprechen von „geistlichen Lügnern“ bringen solche schrecklichen Taten wie die der Hamas hervor, aber natürlich bleibt jeder einzelne Mörder in der persönlichen Verantwortung für seine Taten. 

Was mir Hoffnung gibt in dieser furchtbaren Situation? Dass Gott auch heute Herzen verwandelt. Er gibt die Kraft, Fehler zuzugeben und um Vergebung zu bitten. Als Christen dürfen wir den Frieden leben, Hände reichen, versöhnen und manchmal das Leid mit allen Menschen aushalten, wie jetzt. 

Bis zum Freitag vor dem Angriff der Hamas waren wir mit unseren palästinensischen behinderten jungen Menschen eine Woche in Tabgha am See Gennesaret und trafen dort eine israelische Behindertengruppe, wir feierten das Laubhüttenfest zusammen und hatten eine wunderbare Woche. Am Samstagmorgen um 6.30 Uhr hörten wir die ersten Sirenen.

Verzweifeln lässt mich die schreckliche Propaganda-Maschinerie in den zensierten arabischen Medien. Es wird hier berichtet, dass Israel das Ganze bewusst inszeniert habe. Ich sage dann immer, es gebe doch eine nachprüfbare Faktenlage, aber bereits hier gehen die Ohren auf Durchzug. Ich habe aufgehört, mit Argumenten zu kämpfen, lasse es geschehen und bitte Gott, uns die Augen zu öffnen. Ich gebe nie auf, aber ich kenne meine Grenzen und werde nicht hassen! 

Es wird viel Weisheit, Kraft und gute Ideen brauchen nach diesem schrecklichen Krieg, dessen Ende noch nicht abzusehen ist, die Wunden zu verbinden und für die Heilung einzutreten. Wir Christen sind gefragt und nur wir haben den Weg der Versöhnung, weil ihn einer durch sein Leben bereits vorgelebt und uns geschenkt hat. Möge ER die Kraft schenken, IHM nachzufolgen!

Von Burghard Schunkert | Der Autor ist Leiter von Lifegate in Beit Jala. Lifegate hilft Menschen mit Behinderung im Heiligen Land, selbstständig leben zu lernen.