Ethikrat ergänzt Kirchen als Ratgeber der Politik

Ihre Stimmen werden noch gehört

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Lange waren die Kirchen in ethischen Fragen wichtige und oft alleinige Ratgeber für Politik und Wirtschaft. Doch seit zwanzig Jahren sind sie nur noch ein Teil der Berater, denn da wurde der Nationale Ethikrat durch die damalige Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) gegründet.


„Die Kirchen haben einen großen Teil ihrer ethischen Kompetenz eingebüßt,
aber über die Ethikräte werden sie noch gehört“, sagt Professor Jürgen
Manemann. Foto: Edmund Deppe

Professor Jürgen Manemann, Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover (fiph) und selbst Mitglied in der Initiative Niedersächsischer Ethikrat, nimmt diese Entwicklung in den Blick.

War der ethische Rat der Kirchen im Jahr 2001 nicht mehr genug oder welche Gründe spielten bei der Gründung des Nationalen Ethikrates eine Rolle?

Der Einfluss der Kirchen auf die ethische Meinungsbildung war natürlich schon geschwächt. Ein Grund war sicherlich auch die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft. Die Einberufung des Nationalen Ethikrates durch Kanzler Schröder im Jahr 2001 war aber sehr umstritten. Kritiker witterten Gefahren: unter anderem die politische Instrumentalisierung des Rates, die politische Suspension ethischer Fragen durch die Delegierung derselben an ein außerparlamentarisches Gremium. Und diese Befürchtungen waren keineswegs unberechtigt, schließlich wurden die Mitglieder direkt vom Bundeskanzler bestimmt. 

Heute stellt sich die Situation anders dar: Seit 2007 gibt es ein Ethikratgesetz und seit 2008 einen „Deutschen Ethikrat“, dessen Mitglieder vom Präsidenten des Deutschen Bundestages auf Vorschlag vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung berufen werden. Und in diesem Rat sitzen nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern auch Repräsentinnen und Repräsentanten verschiedener Religionen. Die Aufgabe des Rates besteht nämlich darin, verschiedene ethische Perspektiven miteinander in einen Dialog zu bringen, über die Ergebnisse der Beratungen die Öffentlichkeit zu informieren  und  Empfehlungen an die Politik zu adressieren. Die Kirchen besitzen also kein Monopol mehr auf öffentliche Moral, sie sind eine Stimme unter anderen, aber immerhin werden ihre Stimmen noch gehört.  

Wird heute weniger auf die Stimme der Kirchen gehört? Haben sie sich selbst ins Abseits gestellt?

Ja, denken Sie an die katholische Kirche. Häufig wurden und werden die Normen der Morallehre nur exekutiert, ohne Berücksichtigung der Komplexität spezifischer, das heißt dramatischer, dilemmatischer oder tragischer Entscheidungssituationen, ohne Sensibilität für die  Situation konkreter Menschen. Es fehlt oft das Bewusstsein von der theologischen Rahmung der Morallehre. Die biblischen Gebote wurden ja von einer Gottheit erlassen, deren Spezifikum es ist, Menschen aus der Unterdrückung zu retten. Der Exodus-Gott stellt Gebote auf, um die Befreiung aus Unterdrückung auf Dauer zu stellen. Die Gebote sind als Hilfe und Zuspruch zu interpretieren: Jedes „Du sollst ...“ enthält ein „Du wirst können ...“. Die Gebote sollen uns nicht niederdrücken, sondern aufrichten. Sie sollen uns zum aufrechten Gang befähigen.

Haben die Kirchen als moralische Instanz – gerade auch durch die Missbrauchsskandale – ihre Kompetenz auf diesem Gebiet verloren?

In der Tat, durch die Missbräuche und die Vertuschungen hat die Kirche ihre Autorität in moralischen Fragen selbst untergraben. Sie muss jetzt endlich den Mut zu echter Umkehr aufbringen. Dazu brauchen wir ein Kirchenrecht, das zuerst die Opfer schützt. Hier beginnt gerade ein Perspektivwechsel. 
Und in der Morallehre bedarf es einer Abkehr von einem Verständnis von Moral, das diese zu einer bloßen Sündenmoral herabstuft. An der Zeit ist eine Moral als Leidensmoral, wie der katholische Theologe Johann Baptist Metz gefordert hat: „Jesu erster Blick galt den Leidenden und nicht den Sündern.“

Segnung von homosexuellen Paaren, der Streit um die Schwangerenkonfliktberatung, die Trauung von geschiedenen Partnern – sind das Themen, die hier eine Rolle gespielt haben?

Ganz sicher. Gerade der Umgang mit homosexuellen Paaren zeigt ein Defizit an moralischer Sensibilität. Es wäre an der Zeit, dass die Kirche, wie Papst Franziskus es forderte, ein Schuldbekenntnis spricht im Blick auf die Diskriminierung von homosexuellen Menschen, die sie mit befördert.

Wir reden in der Kirche vom mündigen Christen, werden aber von der Amtskirche immer wieder mit Verboten konfrontiert. Dabei hat doch schon der Kirchenlehrer Thomas von Aquin als letztendlich ethische Instanz das eigene Gewissen betont. Spielt dies überhaupt noch eine Rolle?

Hier ist es zu einer Schieflage gekommen. Immer mehr Katholikinnen und Katholiken haben den Eindruck, die eigene Kirche spreche ihnen das Gewissen ab. Papst Franziskus sieht das auch sehr deutlich. Aus diesem Grund betont er unmissverständlich, dass es Aufgabe der Kirche ist, das Gewissen zu bilden und nicht, dieses zu ersetzen. Es geht schließlich um moralische Selbstverantwortung. Das Gewissen ist und bleibt die höchste Instanz. Aber die Gewissenentscheidung setzt eine Gewissensbildung voraus, das heißt, sie bedarf einer Auseinandersetzung mit anderen Menschen, der Bibel als dem Wort Gottes und der Morallehre. Ich brauche zur Bildung meines Gewissens keinen Papst, der mich in meiner bürgerlichen Existenz bestätigt. Ich brauche aber ein Lehramt, das mein Gewissen respektiert.

Sollte die Kirche, statt Verbote auszusprechen und auf moralischen Positionen zu verharren, da nicht den Diskurs mit den Gläubigen suchen? 

Kardinal Kasper hat die Aufgabe benannt. Es kommt auf eine weiterführende Vertiefung der Morallehre an. Anders gesagt: Es gilt, die Normen zu erden. Es gibt schließlich unterschiedliche objektive Situationen. Eine Pastoral, die das aus dem Blick verliert, ist Franziskus zufolge unerbittlich und verstößt gegen das Gebot der Barmherzigkeit. Vielleicht hilft uns der Rat im Umgang mit Dogmen weiter, den der katholische Theologe Karl Rahner einst gegeben haben soll: „Dogmen sind wie Straßenlaternen. Sie weisen in der Nacht den Irrenden den Weg. Aber nur Betrunkene halten sich daran fest.“ Franziskus plädiert deshalb für inkulturierte Lösungen. 

Durch die Ethikräte haben die Kirchen auch viel Einfluss auch auf politisches Handeln verloren. Sind sie noch systemrelevant?

 „Systemrelevanz“ ist keine theologische Kategorie. Ich würde die Existenz der Ethikräte auch nicht als Relevanzverlust für die Kirchen deuten und beide in ein Konkurrenzverhältnis setzen. Kirchen sind nur Kirche, wenn sie Lerngemeinschaften sind. Die Dialoge und Beratungen in den Räten können den Kirchen helfen, ihre Normen zu erden, sie tiefer zu verstehen. Wie die biblischen Gebote, so sind auch die Normen der Morallehre vom Exodus-Gott her zu deuten. Die Kirchen könnten so sich und ihre Morallehre neu und anders entdecken lernen. Eine Morallehre, die unsere Leidempfindlichkeit für die tiefen Anliegen anderer steigern würde, wäre schließlich basal für unser menschliches, unser zwischenmenschliches Zusammenleben.

Interview: Edmund Deppe
 


Der Deutsche Ethikrat 

Der Deutsche Ethikrat ist ein unabhängiger Sachverständigenrat, der „die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft verfolgt, die sich im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen ergeben“. Er beschäftigt sich also mit den großen Fragen des Lebens. Mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen gibt er Orientierung für die Gesellschaft und die Politik. Seine Mitglieder werden vom Präsidenten des Deutschen Bundestages ernannt.

Der Deutsche Ethikrat hat sich am 11. April 2008 auf der Grundlage des Ethikratgesetzes konstituiert und die Nachfolge des im Jahr 2001 von der Bundesregierung eingerichteten Nationalen Ethikrates angetreten. Er besteht aus 24 Mitgliedern, die naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, ethische, soziale, ökonomische und rechtliche Belange in besonderer Weise repräsentieren. Zu seinen Mitgliedern gehören Wissenschaftler aus den genannten Wissensgebieten, darüber hinaus Personen, die in besonderer Weise mit ethischen Fragen der Lebenswissenschaften vertraut sind, sowie Kirchenvertreter. 

Bislang hat der Deutsche Ethikrat zwanzig umfangreiche Stellungnahmen erarbeitet, unter anderem zu den Themen anonyme Kindesabgabe, Intersexualität, Präimplantationsdiagnostik, Gendiagnostik, Patientenwohl und Big Data. Er hat sich damit als Impulsgeber für die Beratung der Politik, aber auch der breiten Öffentlichkeit etabliert. Die Mitglieder werden für vier Jahre berufen. (ed)

 


Jürgen Manemann

Jürgen Manemann wurde am 6. Oktober 1963 in Lingen geboren. Er ist katholischer Theologe und Philosoph. Seit 2009 leitet er als Direktor das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph), eine Einrichtung in Trägerschaft der katholischen Kirche. 
Manemann ist Schüler des Konzilstheologen Johann Baptist Metz und gilt als Vertreter der Neuen Politischen Theologie. Neben der politischen Philosophie sind seine Forschungsschwerpunkte Umweltphilosophie und neue Demokratietheorien. (ed)