Christian Ohly spielt in Morgenandachten im Bundestag Orgel
Im Zentrum der Macht
Christian Ohly an der Truhenorgel im Andachtsraum des Reichstages. Foto: Almut Lüder |
Langer Spieler, winzige Truhenorgel. Im Gesamtbild wirkt alles noch extremer. Doch Christian Ohly kümmert das nicht. Gelassen beugt sich der Organist mit seinen 1,96 Meter über die Truhe und sieht, wie sich die 1,20 Meter langen bis zu wenigen Zentimetern kurzen Holzpfeifen hineindrängen. Wie das alles passt! „Ein Wunderwerk“, entfährt es dem Kirchenmusiker heute noch. Dabei kennt er das Instrument im Andachtsraum des Reichstagsgebäudes schon 20 Jahre. Am Anfang spielte er es nur vertretungsweise, seit zweieinhalb Jahren musiziert er regelmäßig bei den christlichen Morgenandachten im Deutschen Bundestag.
Geläut des Kölner Doms ruft zur Andacht
Kurz vor halb neun Uhr morgens zieht Ohly hinter der Trennwand des Andachtsraums die Schutzhülle von der kleinen Orgel, rollt sie dicht an den Altar, stellt die Orgelbank davor. Dann beginnt schon fast sein Einsatz. Erst aber ertönt ab 8.35 Uhr das Geläut des Kölner Doms über die Lautsprecher auf der gesamten Plenarsaalebene. Besucher der Andacht eilen herbei. Um 8.40 Uhr startet sie. Für Ohly bleibt wenig Spielraum: ein bis zwei Minuten Vorspiel, gerne Bach oder Buxtehude. Wichtig sei ihm, dass es sowohl schwungvoll als auch sensibel ist und dass es die Gemeinde positiv anregt und nebenbei auch wach macht. Lieder aus dem evangelischen Gesangbuch oder aus dem katholischen Gotteslob spielt er auch, je nach Stand des Kirchenjahrs und Auswahl der Lesungstexte – ganz ökumenisch. Am Ende folgt ein kurzes Nachspiel. Alles darf nur 15 Minuten dauern. Um 9 Uhr ertönt der Gong nebenan im Plenarsaal zur Eröffnung der Sitzung.
In den Sitzungswochen des Bundestags – 20 bis 23 Wochen im Jahr – versammeln sich donnerstags, freitags und in den Haushaltswochen zusätzlich auch mittwochs Bundestagsabgeordnete und Mitarbeiter in dem Raum auf der Südseite des Reichstagsgebäudes für eine geistliche Wegzehrung. Prälat Karl Jüsten vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe oder Prälat Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, leiten die Andachten hin und wieder, doch meist übernehmen Bundestagsabgeordnete das in Eigenregie.
Besonderer Ort – normaler Dienst
Ist dieser Job besonders attraktiv? Klar, er ist am exponierten Ort. Die kleine Gemeinde besteht aus einflussreichen Menschen. Der Andachtsraum stammt vom renommierten Künstler Günther Ücker und bildet einen deutlichen Kontrast zum Plenarsaal. In den Standbildern ringsum stecken Nägel, die zum Kreuz geformt sind und Steine aus ehemaligen Konzentrationslagern, ein kleines Holzkreuz liegt auf dem Altar. Stufen in Richtung Mekka und Jerusalem öffnen den Raum für alle Religionen, gedämpftes Licht schafft Ruhe. Hier ist man abseits von großen Worten, Wettstreit und Rampenlicht. Ohly passt in dieses Bild. Er wirkt zurückhaltend. „Am Anfang bin ich ganz schön nervös gewesen“, sagt er. Der Kirchenmusiker ist begeistert, dass hier Kirche und Religion abseits von Politik ihren Platz haben darf. Trotzdem räumt er diesem Job keinen anderen Stellenwert ein als seinen anderen Diensten: Ob in der Kirche beim Orgelspiel, bei der Chorprobe, beim Musizieren mit Kindern oder im Seniorenheim oder eben im Reichstagsgebäude, er wolle immer und überall sein Bestes geben: „Es ist für mich ein Dienst am Mitmenschen.“
Die Kirche ist dem aus Frankfurt am Main stammenden Musiker in die Wiege gelegt. Seine Mutter war Religionslehrerin, sein Vater Pfarrer. Doch zunächst ging Christian Ohly andere Wege und machte sein Diplom im Technischen Umweltschutz an der Technischen Universität in Berlin. Dann kam die Kehrtwende. Ohly, der mit elf Jahren begann Klavier zu lernen, studierte Kirchenmusik und Gesang in Halle. Nach Zwischenstationen zog er mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Hohen Neuendorf am nördlichen Stadtrand von Berlin, um dort eine Stelle als Kirchenmusiker anzutreten.
Ohly freut sich, wenn sich die Besucher angeregt nach der Andacht unterhalten. Bevor sein Dienst beendet ist, rollt er die Orgel wieder hinter die Trennwand. Anschließend steigt der Kirchenmusiker in die S-Bahn und fährt zurück nach Hohen Neuendorf zu seinem Hauptjob.
Von Almut Lüder