Das Jagdfries an der Apsis des Kaiserdoms in Königslutter

Kaiser Lothars Vision vom Frieden

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Schon seit Jahrzehnten forscht Jürgen Bernhard Kuck über den Jagdfries an der Apsis des Kaiserdomes in Königslutter. Dabei hat er im Laufe der Jahre Erstaunliches herausgefunden.


Immer wieder besucht Jürgen Kuck den Jagdfries am Kaiserdom. Er ist sich sicher, dass er noch nicht alle dort versteckten Rätsel entdeckt hat.

Im Jahr 1135 stiftete Kaiser Lothar III. die Pfeilerbasilika in Königslutter als Benediktiner-Abteikirche und Grablege für sich und seine Familie. Seiner Verfügung nach wurde das Gotteshaus unter das Patrozinium der Apostel Petrus und Paulus gestellt. Fertiggestellt wurde die im romanischen Stil erbaute Kirche um 1170 unter Heinrich dem Löwen – nach Lothars Tod. Die Ausmaße der Stiftskirche sind für die damalige Zeit enorm: 75 Meter lang und 18 Meter hoch. Berühmt ist der Dom in Königslutter auch durch den Jagdfries. Er befindet sich an der Außenwand der Apsis. Erdacht wurde er wahrscheinlich vom italienischen Steinmetz Nicolaus von Verona.

Generationen von Kunsthistorikern und Mittelalterexperten haben sich den Kopf darüber zerbrochen, was es mit diesem Jagdfries auf sich hat, was die ungewöhnlichen Jagdszenen für eine Bedeutung haben könnten. Der Kunstpädagoge Jürgen Kuck ist da keine Ausnahme. Für ihn ist es fast schon zur Lebensaufgabe geworden, Licht ins Dunkel dieser Steinmetzarbeiten aus dem 12. Jahrhundert zu bringen.

 


Das wohl bekannteste Bild vom Jagdfries: Die Hasen, die den Jäger besiegt haben und fesseln.

Ein Kriegsführender Friedenskaiser

Kaiser Lothar III. hat eigentlich sein ganzes Leben lang Krieg führen müssen, um seine Herrschaft zu begründen, zu erweitern oder zu wahren. Dennoch wird er auf einer Tafel, die in seinem Sarg gefunden wurde, als Friedenskaiser gerühmt. „Galt dieses Lob seiner Vision? Sehnte sich der Kaiser angesichts der Kriege und Schlachten, die auszufechten er gezwungen war, nach einem messianischen Reich des Friedens und der Gerechtigkeit, wie es im Alten Testament prophezeit wird?“, fragte sich Jürgen Kuck und versuchte diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Beim Propheten Jesaja wird er fündig. „Der Prophet verkündet das Kommen eines Reiches des Friedens und der Gerechtigkeit für alle Völker und für alle Lebewesen, auch für die Tiere. Dieses Reich hat seine Wurzeln in den Sieben Gaben des Heiligen Geistes, die uns im Siebenarmigen Leuchter im Braunschweiger Dom symbolisch vor Augen stehen“, erzählt Kuck. Und dieses Sehnsuchtsbild ist in der Kunst erhalten geblieben. „Ein Urbild dieser Sehnsucht des von Jesaja prophezeiten Sieges der Hilflosen und Armen ist im Jagdfries der Grabeskirche Kaiser Lothars in einem weltweit einmaligen allegorischen Bild dargestellt, das zwei Hasen zeigt, die ihren Jäger in Fesseln schlagen.“
 


Je nach Perspektive des Betrachters lassen sich im Geweih des Hirsches Buchstaben erkennen (siehe Grafik).

Nach Kuck verkörpert der Jäger den Menschen als Herrn der Schöpfung. Sein Schicksal ist eine Mahnung im Sinne Jesajas, dem Frieden und der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. „In Kapitel 10 beklagt Jesaja die unheilvollen Gesetze und unerträglichen Vorschriften, die von den Herrschenden erlassen werden, um die Schwachen und Armen des eigenen Volkes auszubeuten, auszuplündern und zu berauben. Klagen, die auch heute noch ausgerufen werden könnten“, meint der Jagdfriesexperte und zieht eine Parallele zur aktuellen Situation. „Spätestens nach dem Fall der Mauer schienen die Folgen des Zweiten Weltkriegs überwunden und ein Leben in  Freiheit, Frieden und Wohlstand für uns Deutsche eine Selbstverständlichkeit zu sein. Doch jetzt herrscht wieder Krieg in Europa“, sagt Kuck nachdenklich. Dabei sei die Sehnsucht nach einem irdischen Paradies so uralt wie die Menschheit.
 


Im Alten Testament ist es die Vision des Propheten Jesaja im Kapitel 11, die diese Sehnsucht als „Tierfrieden“ in Worte fasst: „Der Wolf wohnt beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein.“ Man tut nichts Böses mehr.

Im Braunschweiger Land wird diese Sehnsucht schon im Mittelalter am Kaiserdom zu Königslutter im Jagdfries an der Ostapsis mit einem einzigartigen Bild verkündet:  Eben das der zwei schwachen Hasen, die ihren übermächtigen Verfolger, den Jäger, fesseln. Dieses Motiv bildet den Höhepunkt einer Bilderfolge, welche die Hetzjagd auf Hasen, Wildschwein und Hirsch darstellt.

Botschaft in Bildern und Buchstaben

Kuck ist sich sicher, dass Kaiser Lothar III. diese Vision vom Sieg der Schwachen über die Starken vor fast 900 Jahren vergleichbar einer Hieroglyphe in der Verbindung von Bild und Text als Rätsel in Stein hauen ließ. Der Kunstpädagoge hat dafür die Linien der Steinmetzarbeiten untersucht und in den Bildern Buchstaben entdeckt.

„Die Fesseln des Jägers, die Hasenohren und der Kragen des Jägers verbergen in Vexiereffekten die sechs Buchstaben V  I  C  V  V  V. Das sind die Anfangsbuchstaben der Botschaft: ‚Visio: Iesus Christus Via et Veritas et Vita.‘  Zu deutsch: ‚Vision: Jesus Christus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.‘ Und so steht es im Johannesevangelium im Kapitel 46.“ Wie Kuck sagt, sei es nicht leicht, alle Vexierbilder sofort zu erkennen. Immer wieder hat er sich die Bilder vom Jagdfries angeschaut, hat probiert und verglichen.
 


„Ich habe so oft davorgestanden, hatte das Kreuz vor Augen und habe es nicht gesehen“, sagt Jürgen Kuck.

Im Alten Testament nennt der Prophet Jesaja auch den Namen des Erlösers: „Emmanuel.“ Dieser Name heißt übersetzt: Gott ist mit uns! Der Erlöser wird als Kind von einer Jungfrau geboren werden. Und er wird ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit errichten. Eine Verheißung, die im Evangelium nach Matthäus als Erfüllung verkündet wird. „Sie erfüllt sich mit der Geburt Jesu Christi. Seine Geburt in Betlehem feiern wir Jahr für Jahr. Ich war mir sicher, dass das Wort Emmanuel auch irgendwo im Jagdfries versteckt sein muss. Gefunden habe ich es schließlich im Geweih des Hirsches in einer alten Schreibweise. Da ist es vollständig ablesbar: E  m m A N U H E L – man muss die Stangen des Gweihs einfach nur in die Buchstabenteile zerlegen.“  

„Ich hatte das Kreuz vor Augen und habe es nicht erkannt!“

Und dabei ist Kuck noch auf etwas anderes gestoßen. „Ich weiß nicht, wie oft ich mir den Jagdfries hier in Königslutter live angeschaut habe oder zu Hause auf Fotos oder am Bildschirm. Ich habe es vor Augen gehabt, aber nicht erkannt. Ich habe nach einem Kreuz gesucht, das im Fries untergebracht ist, war aber wie vernagelt. Dabei ist es so einfach und offensichtlich. Genau wie in der Hubertus- oder Eustachiuslegende ist das Kreuz im Geweih des Hirsches zu finden“, betont er.
In beiden Legenden erblicken die Jäger in einer Vision ein leuchtendes Kreuz im Geweih des Hirsches, den sie verfolgen. In der Eustachiuslegende fragt der Hirsch seinen Jäger: „Warum verfolgst du mich? Ich bin dir zuliebe in dieses Hirsches Gestalt erschienen, denn ich bin Christus, und ich bin zu dir gekommen, dass ich dich durch diesen Hirsch fange, den du selber zu jagen wähntest.“ Für Kuck ist klar: „Im Jagdfries spiegelt sich die Botschaft der Auferstehung und Erlösung wider.  Die beiden Hasen, die den Jäger in Fesseln schlagen, sind zuvor von den Jägern getötet worden. Ihre Auferstehung ist ein Wunder. Es verweist auf den Sieg des Lebens über den Tod und unterstreicht den Sieg Christi über das Böse“, so Kuck.

Die Absicht Kaiser Lothars scheint klar auf der Hand zu liegen. Er ließ ein Kunstwerk schaffen, das zum Nachdenken anregen will. „Kaiser Lothar bindet mit dem von ihm gestifteten Jagdfries bis heute die Betrachter in ein Rätsel ein, das er im Jahr 1135 an seiner Grabes-, Sühne- und Gedächtniskirche einmeißeln ließ. Diese kreative Einbindung des Betrachters findet in der zeitgenössischen Kunst ihre Fortsetzung, zum Beispiel in interaktiven Konzeptionen von Kunstwerken und in der universalen Auffassung der Kunst im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs eines Joseph Beuys“, meint der Kunstpädagoge Jürgen Bernhard Kuck.

Edmund Deppe