Menschen mit Behinderungen in der Corona-Krise

Kalt erwischt

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Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen hatten in der Corona-Krise keine Lobby in der Gesellschaft. Die Raphaelsgesellschaft Heiligenstadt ging eigene Wege, um ihre Klienten nicht allein zu lassen.

Benno Pickel (Zweiter von links) und Mitarbeiter der Eichsfelder Werkstätten.    Foto: Holger Jakobi

 

„Am Anfang waren wir völlig irritiert. Im März hieß es, dass sich das Coronavirus neun Tage auf glatten Oberflächen halten kann. Wir alle waren verunsichert. Heute wissen wir, es sind 20 Minuten“, so Benno Pickel, Geschäftsführer der Raphael Gesellschaft mit Sitz in Heiligenstadt. Pickel hofft, dass nach der Urlaubszeit eine zweite Corona Welle ausbleibt. „Unsere gemachten Erfahrungen geben uns allerdings eine gewisse Sicherheit, gut und verantwortungsvoll reagieren zu können. Es sind genügend Masken da, Schutzkleidung und Desinfektionsmittel auch.“ Insgesamt waren Benno Pickel und alle Mitarbeiter ständig mit der Frage konfrontiert, wie und in welchem Umfang der Betrieb und die Betreuung der behinderten Menschen weitergeführt werden konnten. Zu Beginn lag die Ansteckungsquote im Landkreis Eichsfeld bei fünf, aktuell bei null.

Plötzlich Therapeutin und Friseurin
Vom 18. März bis zum 19. Juli herrschte in den Einrichtungen der Hilfe für Menschen mit Behinderungen – Werkstätten und Wohnheimen – der coronabedingte Ausnahmezustand. Die Schließungen kamen über Nacht. Marianne Vogt aus Mühlhausen wurde davon kalt erwischt. Als Mutter eines Sohnes mit Behinderung musste sie plötzlich in Berufen arbeiten, in denen sie nicht unbedingt tätig sein wollte. „Ich war Ergotherapeutin, Friseurin, Unterhalterin … und ich musste registrieren, dass die Menschen mit Handicap keinerlei Lobby haben. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen schweigen. Ich muss sagen: Meinem Sohn wurde die Würde genommen.“ In einem Schreiben zum Thema betont Marianne Vogt: „Im Thüringer Landtag kamen sofort wieder die Themen Kita, Gaststätten und so weiter. Menschen mit Behinderungen existieren nicht.“ Inzwischen kann ihr Sohn wieder in die Werkstatt gehen, doch noch immer nicht an seinen angestammten Arbeitsplatz. Immer wieder fragt er nach dem Warum. Marianne Vogt betont weiter, dass solche Krisen mit Familien und Freunden leichter zu ertragen sind. Zugute komme den Angehörigen von Menschen mit Behinderungen auch der Umstand, dass sie es gewohnt sind, ihre Pläne oft ändern zu müssen.
In welcher Weise ihr Sohn die Corona-Pandemie wahrnimmt, weiß die Mutter nicht. Das macht es nicht leichter. Benno Pickel weiß um die Situation. „Es war für die uns anvertrauten Menschen eine ganz schlimme Zeit. Dabei zeigte sich, wie wichtig es ist, in eine Werkstatt kommen zu können. Unseren Leuten geht es nicht zuerst um das Geldverdienen, es geht ihnen um menschliche Kontakte, um Beziehungspflege und es geht wirklich um Menschenwürde.“ Dabei sieht Pickel eine schwierige ethische Frage: „Steht nicht das Recht des Einzelnen über dem Recht der Gemeinschaft. Oder inwieweit ist es akzeptabel, die Freiheit behinderter Personen stärker einzuschränken als die von Bürgern, die nicht in Wohnheimen leben?“
Benno Pickel kritisiert, dass einige Werkstätten bis heute geschlossen sind. Bei den in der Raphael Gesellschaft Tätigen zeigte sich schnell, dass sie irgendwie weiter betreut werden müssen. In Thüringen gab es die Möglichkeit, für die Klienten Notgruppen zu öffnen. Davon wurde Gebrauch gemacht. Besonders psychisch kranke Menschen konnten einfach nicht alleine gelassen werden. Trotz weiterer intensiver Betreuung und Besuchen haben es leider zwei Frauen nicht geschafft. Sie beendeten ihr Leben.
Benno Pickel berichtet weiter, dass von den Mitarbeitern und gesetzlichen Betreuern das persönliche Risiko vieler Klienten nach der vorläufigen Schließung im März eingeschätzt wurde. 30 Personen wurden als akut gefährdet angesehen und in eine Gruppe zurückgeholt.

Mütter sahen ihre Kinder leiden
Problematisch war zudem der Umstand, dass sehr viele Frauen und Männer von der Raphael Gesellschaft therapeutisch betreut werden. Das geht nur vor Ort. „Zu Hause verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand meist sehr schnell. Mütter mussten zusehen, wie ihr Kind leidet und gesundheitlich mehr und mehr beeinträchtigt wird“, sagt Benno Pickel. Mütter mit schwerstbehinderten Kindern beispielsweise waren völlig überfordert. Sie konnten nicht mit Einkaufswagen, Rollstuhl, Mundschutz und Abstand die notwendigen Besorgungen tätigen. Auch in diesem Bereich wurden Ende April und Anfang Mai Notgruppen geöffnet. Bei allem war es so wichtig, den Kontakt zu den betroffenen Familien zu halten. „Sei es um zuzuhören, sei es, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen.“
Benno Pickel konnte in diesen Monaten auf ein Team von Mitarbeitern vertrauen, die sich nicht schonten, sondern mit anpackten. Und das in einer Zeit, in der in den Familien alles anders lief. Dazu kommt, so Pickel, dass viele Mitarbeiter Angst hatten, sich anzustecken und das Virus in ihren Familien zu verbreiten. „Ich bin Gott sehr dankbar, dass wir bisher keinen einzigen Fall in unseren Einrichtungen hatten.“
Neben den Werkstätten gibt es in Heiligenstadt mehrere Wohngruppen. „Von einem Tag auf den anderen war auch hier alles anders. Weder Kontakte der Gruppen untereinander noch Besuche von Angehörigen und Freunden waren mehr erlaubt. Alles Leben spielte sich innerhalb der Wohneinheiten ab“, berichtet Benno Pickel. Dabei gehörten doch soziale Kontakte zum Alltag dazu und sei es nur der Einkauf im nahen Netto-Markt. Hier allerdings konnte eine schnelle Lösung gefunden werden. Benno Pickel: „Wenn wir nicht zum Markt gehen können, dann kommt der Markt eben zu uns.“ Unter dem Namen „Brutto“ wurde ein Projekt entwickelt, dass den Einkauf innerhalb des Wohnheimes möglich macht. „Wir haben die Bewohner gefragt, was sie gerne hätten. Dann haben wir kalkuliert und die Waren einfach gekauft. Auf Tischen und mit Abstand wird bis heute verkauft. Das kommt wirklich gut an.“
Insgesamt haben in der Raphael Gesellschaft – in den Werkstätten und den Wohneinheiten – 530 Menschen mit Behinderung ein soziales Umfeld gefunden. Zirka 60 von ihnen leiden unter psychischen Einschränkungen. Das Motto der Gesellschaft lautet „Sehen und Handeln“. „Wenn wir sehen, dass behinderte Menschen Hilfe brauchen, zögern wir nicht lange!“, so Pickel. Ziel ist es, Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglich.

Von Holger Jakobi