Interview mit Felix Klein
„Kippa gehört zu uns wie das Kreuz“
Ohne Zweifel – in Deutschland muss über Antisemitismus gesprochen werden. Aber was verbirgt sich dahinter? In einer katholischen Schule im Emsland haben sich junge Menschen mit diesem Thema beschäftigt. Mit dabei war Felix Klein. Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus sprach über diese Frage in einem Interview.
Was ist das, was wir Antisemitismus nennen?
Ein drastisches Synonym für das Wort Antisemitismus ist „Judenhass“. Es geht um Eigenschaften, die den Juden zugeschrieben werden, meist eine negative Form wie zum Beispiel Geldgier. Antisemitismus hat zum Ziel, Juden auszugrenzen, sie als negative, besondere Gruppe außerhalb der Mehrheit zu stellen.
Kann jeder ein Opfer antisemitischer Taten werden?
Natürlich. Wenn Sie eine Kippa tragen, weil Sie Solidarität mit jüdischen Menschen zeigen wollen, und Sie werden deshalb angegriffen, dann sind Sie auch als Nichtjude ein Opfer.
Ist jemand, der Juden beschimpft oder angreift, automatisch ein Antisemit?
Er verübt zumindest eine antisemitisch motivierte Tat. Und das ist der für die Strafverfolgungsbehörden relevante Punkt. Strafbar ist grundsätzlich eine konkrete Tat, etwa ein körperlicher Angriff oder Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen – nicht aber, ob jemand ein antisemitisches Weltbild hat. Ob die einzelnen Taten dann auch immer Straftaten im Sinne des Gesetzes sind, da sind die Grenzen sicherlich fließend.
Wie ist die Situation in Deutschland?
Die polizeiliche Statistik weist für 2018 knapp 1800 Straftaten aus. Das ist gegenüber dem Jahr 2017 ein Anstieg um fast 20 Prozent, und das bei allgemein sinkender Kriminalität, auch der politisch motivierten. Wie immer, kann man aber auch hier von einem großen Dunkelfeld ausgehen, außerdem gibt es Angriffe, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen.
Haben Sie ein Beispiel für Antisemitismus, der nicht strafbar ist?
Vor einiger Zeit ist ein Gast in ein Hotel an der Ostsee gekommen. Der Mitarbeiter an der Rezeption merkt, dass es sich um einen jüdischen Gast handelt und sagt zu einem Kollegen: Achtung, wir haben jetzt Juden im Haus. Der Satz ist natürlich nicht strafbar, bringt aber doch eine ablehnende, ausgrenzende Wahrnehmung von Juden zum Ausdruck.
Was können Betroffene dagegen tun?
Ich baue gerade ein bundesweites Meldewesen auf, damit auch solche Taten eindeutig dokumentiert werden können. Betroffene und Zeugen können sich niedrigschwellig melden, und sie können auch Hilfestellung bekommen, wenn eine Tat zum Beispiel ein Trauma auslöst und psychologische Unterstützung nötig wird.
Was können Sie mit solchen Daten anfangen?
Die Daten können helfen zu erfassen, wie es mit dem Antisemitismus in Deutschland genau aussieht und wie unsere Präventionsarbeit darauf reagieren kann.
Sind die Deutschen ein Volk von Antisemiten?
Das kann man so grundsätzlich sicher nicht sagen. Aber wir haben Ergebnisse von Umfragen, demnach sind bei rund 15 Prozent der Bevölkerung in Deutschland antisemitische Vorurteile verbreitet. Antisemitismus, der sich auf den Staat Israel bezieht, hat mit etwa 40 Prozent die höchsten Zustimmungswerte. Da wird die Politik des heutigen Staates Israel gegenüber den Palästinensern gleichgesetzt mit der Politik der Nationalsozialisten gegenüber den Juden. Diese Zahlen halte ich für erschreckend.
Ist die Zahl der Antisemiten in Deutschland gestiegen?
Dafür gibt es keinen Beleg. Aber die Grenzen dessen, was man sagt, haben sich verschoben, die Hemmschwelle ist gesunken. Bei der Ermittlung solcher Werte muss man allerdings auch berücksichtigen, dass Betroffene oder Zeugen heute eher zur Polizei gehen und Taten anzeigen. Das ist auch wichtig, damit auf Täter Druck ausgeübt werden kann.
War der Antisemitismus in Deutschland schon immer da?
Wenn man die letzten Jahrhunderte betrachtet, muss man leider davon ausgehen. Unsere heutige Gesellschaft ist zu lange davon ausgegangen, dass der Antisemitismus mit dem Ende der Naziherrschaft 1945 verschwunden ist. Das war ja nicht der Fall, die Leute waren immerhin jahrelang so erzogen worden. Zur Verbreitung der Denkmuster hatten früher auch die Kirchen beigetragen.
Glauben Sie, dass sich das überwinden lässt?
Diese Denkmuster zu überwinden, ist sicherlich schwer. Dass es möglich ist, hat unsere Geschichte aber schon einmal gezeigt. Auch der Hass gegen Frankreich war tief in unsere Kultur eingepflanzt – ist aber heute komplett überwunden.
Warum wurde 2018 die Stelle des Antisemitismusbeauftragten geschaffen?
Die Bundesregierung hat gemerkt, dass es jemanden braucht, der alle Aktivitäten koordiniert und verschiedene Akteure miteinander verbindet. Auf Ebene der Länder waren auch viele gute Sachen dabei, aber zum Beispiel durch die Gründung einer Bund-Länder-Kommission können wir die Kräfte jetzt besser bündeln. Den letzten Ausschlag gab ein antisemitischer Vorfall, als vor dem Brandenburger Tor eine Israelflagge verbrannt wurde. Da haben Bundestagsabgeordnete gemerkt, dass jetzt Bilder um die Welt gehen, die nicht den politischen Diskurs abbilden, den wir wollen.
Welche Schwerpunkte hat Ihre Arbeit?
Ich nehme die öffentliche Wahrnehmung auf und überlege mir, an welcher Stelle ich einschreite. Das können Einzelfälle sein, zum Beispiel bin ich auf die Leitung einer evangelischen Landeskirche zugegangen, in deren Kirchenzeitung ein antijüdischer Witz abgedruckt war. Oder auf das Erzbistum München-Freising, weil dort eine Kirche nach Johannes Capistran benannt ist, nachgewiesen ein Judenhasser. Allgemeiner wird die Arbeit, wenn ich versuche, auf die Ausbildung etwa von Lehrern und Juristen einzuwirken. Ich möchte dafür sorgen, dass jüdisches Leben als ganz normaler Bestandteil unserer Identität wahrgenommen wird. Wenn das gelingt, haben wir schon viel erreicht.
Welche eigene Beziehung haben Sie zum Judentum?
Ich stamme aus Darmstadt und hatte dort zwei jüdische Freunde in der Schule, das war eine ganz normale Beziehung. Dadurch habe ich schon früh die Besonderheiten dieser Religion erlebt. Als ich 16 Jahre alt war, hatte ich die Gelegenheit zu einer Reise nach Israel. Ich spiele Geige und war mit einem Orchester in Haifa, wo ich zwei Wochen bei einer Familie lebte und herzlich aufgenommen wurde. Als Diplomat für das Auswärtige Amt hatte ich bei verschiedenen Stationen auch immer gute Kontakte zu den jeweiligen Kollegen aus Israel. Die Frage, ob ich Antisemitismusbeauftragter werden möchte, konnte ich deshalb schnell mit Ja beantworten.
Gehört das Judentum zu Deutschland?
Spuren des Judentums sind weit älter als jede deutsche Staatlichkeit. Es gibt ein Dekret des Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321, das Juden gestattet, in Köln zu siedeln. Das zeigt, wie alt jüdisches Leben in Deutschland tatsächlich schon ist. Und dass Juden schon vor jeder Form des Antisemitismus hier waren. Judentum in Deutschland, das ist weitaus mehr als nur eine bittere Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte. Die Kippa gehört zu Deutschland wie das Kreuz.
Juden haben auch die deutsche Kultur geprägt …
… und sie haben, nachdem sie im 19. Jahrhundert weitgehend gleichgestellt wurden, als Erfinder, Ärzte oder Juristen zu unserem Wohlstand beigetragen. Nicht nur in Berlin entwickelte sich Ende der 1930er-Jahre ein Ärztenotstand, weil die jüdischen Mediziner plötzlich fehlten. Auch auf diesen Aspekt bezogen, haben die Nazis unserem Land also schwer geschadet.
Wie sehen Sie, dass sich eine katholische Schule so intensiv mit dem Thema auseinandersetzt?
Großartig. Was hier geschieht, ist wirklich vorbildlich. Und es wird deutlich, dass es nicht allein um Juden geht, sondern dass Antisemitismus auch ein Angriff auf die Werte unserer Gesellschaft ist. Dass die Schule das Thema auch ohne konkreten Vorfall aufgegriffen hat, finde ich ausgezeichnet. Dazu kann ich die Schule sowie die Schulstiftung und das Bistum Osnabrück als Träger nur beglückwünschen. Und ich möchte andere Schulen dazu ermutigen, dem nachzueifern.
Was können junge Leute tun?
Wenn sie Antisemitismus wahrnehmen, sollten sie aufstehen und einschreiten. Dazu muss man natürlich innerlich stark sein, aber es ist nicht „cool“, in WhatsApp-Gruppen unschöne Bilder zu posten. Die Harmonie muss auch mal gestört werden. Schon gar nicht muss man erst auf eine Straftat warten.
Wie steht es mit den Erwachsenen?
Die oben beschriebenen Vorurteile sind hartnäckig, deshalb müssen wir mit unserer Präventionsarbeit auch die Älteren erreichen. Wir kennen das Problem der Altersradikalisierung. Wenn Leute erstmal in Rente sind, wenn sie sich nicht mehr unter Arbeitskollegen bewegen, dann lassen sie oft die Masken fallen.
Wie wichtig sind Begegnungen?
Aus meiner eigenen Geschichte weiß ich ja, dass es immens wichtig ist, aufeinander zuzugehen. Da kann so eine Reise nach Israel schon ein Wunder bewirken. Begegnung setzt natürlich gegenseitige Offenheit voraus, dem sollten sich auch jüdische Gemeinden stellen, wenn das nicht ohnehin schon passiert ist. Das zeigt sich zum Beispiel an Projekten wie „Judentum begreifen“ – so etwas geht ja nicht ohne die Gemeinden. Das sind gute Maßnahmen für die Prävention. Die Bekämpfung von Antisemitismus muss dann natürlich Sache des Staates sein.
Interview: Matthias Petersen