„Drei Orte in meiner Stadt“

Lebenschancen eröffnen

Image
Johannes Weischede war mit Leidenschaft Lehrer und Schulleiter. Kurz nachdem er sich nach 35 Dienstjahren in den Ruhestand verabschiedet hat, führt er in der Tag des Herrn-Reihe „Drei Orte in meiner Stadt“ durch Berlin.

Moderne Kommunikationstechnik einzusetzen, war Johannes Weischede als Lehrer und Schulleiter wichtig. Hier ist er vor einer digitalen Tafel zu sehen, die zu den neuesten Errungenschaften der Marienschule gehört.    Fotos: Dorothee Wanzek

 

An jedem der drei Orte, die Johannes Weischede für seinen Berlinspaziergang ausgewählt hat, nimmt er die Nöte der Stadt wahr, zugleich aber auch ermutigendes christliches Engagement. Alle drei sind für ihn Orte der Gottesbegegnung, und das nicht nur, weil er jeweils eine Kapelle oder Kirche als Herzstück sieht.
Der Stadtteil Neukölln hat sich verändert, seit die Rütli-Schule hier bundesweit in die Schlagzeilen geriet, doch er gilt weiterhin als sozialer Brennpunkt. Die kulturelle und soziale Vielfalt des Kiezes prägt auch die Marienschule, die zwölf Jahre lang der Arbeitsort von Johannes Weischede war. Bei der ersten Stippvisite nach seiner Pensionierung wird der bisherige Leiter des Gymnasialzweiges herzlich von den Kollegen begrüßt, die hier im Lockdown die Stellung halten.

Die Skulptur an der Kirchenfassade von Maria Regina Martyrum steht für die  Hoffnung, die in das Leid und die Schuldverstrickung hineinstrahlt.

Dankbar blickt er vor allem auf die zahllosen Gespräche mit Schülern, Eltern und Mitarbeitern zurück, für die er sich gern Zeit genommen hat. Oft hat er sie als tiefe Begegnungen erlebt, in denen für ihn etwas vom angebrochenen Reich Gottes auf dieser Erde erahnbar war.
Mit der Kirchenzugehörigkeit der Gesprächspartner habe das wenig zu tun, ist er überzeugt. Der Anteil katholischer Schüler ist erheblich gesunken, seit schlesische Schulschwestern die Marienschule 1948 gründeten. Viele heutige Eltern seien aus der Kirche ausgetreten, manche wollten ihren Kindern die Taufentscheidung später selbst überlassen. Wenn der Schulleiter im Aufnahmegespräch nach der Motivation fragte, hat kaum jemand behauptet: „Wir wollten schon immer an eine katholische Schule“. Viele sagten hingegen: „Wir haben Gutes gehört über das Miteinander hier.“ Was ist ausschlaggebend für ein gutes Miteinander? Johannes Weischede denkt nach, bevor er die Frage beantwortet: Auch wenn Leistung in der Schule durchaus eine zentrale Rolle spiele, sollten die Schüler doch erfahren, dass sie vor allem als Menschen wertvoll seien und dass sie ihren Lehrern am Herzen liegen. Zum Beispiel hätten keinesfalls nur Kinder mit Bestnoten Aussicht, aufgenommen zu werden. Wenn es Lernprobleme gebe, verschicke die Schule nicht nur Mitteilungen über den Leistungsstand, ergänzt ein Kollege. Man suche das Gespräch, um gemeinsam herauszufinden, welche Veränderung  dem Schüler helfen könne. Gerade sorge er sich um einen Abiturienten, der erst vor einigen Jahren nach Berlin geflüchtet ist. Kurz vor dem Abitur melde er sich nun plötzlich nicht mehr. Er hoffe, ihn ausfindig zu machen, um ihn darin zu bestärken, die Schule zu einem guten Abschluss zu bringen.

Zu „Katholisch“ fällt  Schülern Positives ein
Christliche Schulen bieten eine einzigartige Chance, Kirche erfahrbar zu machen, sagt Johannes Weischede auch im Blick auf seine früheren Wirkungsstätten, die Liebfrauen- und die Theresienschule. Über viele Jahre lebten Schüler und Lehrer im Alltag zusammen. Sie erlebten dabei  Morgengebet, Gottesdienst und Wallfahrt als selbstverständlich dazugehörig und Gemeinschaft fördernd. Dies führe zwar nicht dazu, dass sich Absolventen reihenweise taufen lassen. Es habe aber durchaus zur Folge, dass Ex-Schülern beim Stichwort „katholisch“ Gutes einfällt. Ein Vater habe ihm berichtet, dass die ganze der Kirche bis dahin fernstehende Familie dem ersten Schulgottesdienst des Sohnes nervös entgegenfieberte. Umso größer sei die Überraschung gewesen, als das Kind voller Begeisterung zurückkehrte und vom einzigartigen Gemeinschaftsgefühl schwärmte. Der Vater hielt für den Rest der Familie fest: „Das führt dann dazu, dass man doch mal die Kirche aufsucht ...“
Die gesammelten Erntedank-Gaben aus der Marienschule werden regelmäßig in der Suppenküche der Franziskaner in Pankow verarbeitet. Johannes Weischedes Verbindung nach Pankow knüpft an die Freundschaft zu dem mittlerweile verstorbenen Franziskanerpater Norbert Plogmann und rührt vor allem aus der inneren Verbundenheit mit den Werten der Ordensgemeinschaft.
In seiner Jugend im Ruhrgebiet verbrachte er seine Freizeit oft in einem christlichen Pfadfinderheim, das sein Onkel mitgegründet hatte. „Ich trat damals recht rigoros für einen einfachen Lebensstil ein“, erinnert er sich. Christlicher Glaube ohne Werke war für ihn undenkbar. Seine erste Seminararbeit als Theologiestudent in Münster schrieb er genau über dieses Thema. An der Marienschule wird christliche Solidarität besonders über den jährlichen Sponsorenlauf erfahrbar. Als Partnerschule des Hilfswerks Misereror unterstützt die Marienschule damit Misereor-Projekte in aller Welt. Das jeweils geförderte Projekt können die Schüler über die Misereor-Hauptstadtniederlassung selbst auswählen.
Seinen eigenen Lebensstil könne er heute ehrlicherweise nicht mehr als arm bezeichnen, sagt Johannes Weischede selbstkritisch. Es sei ihm aber wichtig, weiter auf der Suche zu bleiben nach einer glaubwürdigen und für ihn angemessenen Weise, im Geist von Jesus Christus zu leben. Zurzeit hält er Ausschau nach einem geeigneten ehrenamtlichen Betätigungsfeld, in das er Fähigkeiten und Energie als Jung-Pensionär  künftig einbringen kann. Die Suppenküche in Pankow zieht er dabei durchaus in Betracht.

 

Dieses Zitat an einem Suppenküchen-Fenster drückt aus, was auch Johannes Weischede wichtig ist: Glaube muss sich auswirken.

 

Sich der historischen Verantwortung stellen
Der kontaktfreudige Lehrer findet die schönsten Karten für seine zahlreichen Briefkontakte im Klosterladen der Charlottenburger Karmelitinnen. Der letzte Halt des Stadtspaziergangs liegt direkt daneben, in der Klosterkirche Maria Regina Martyrum. Nackter Beton entspricht eigentlich nicht seinem Architektur-Geschmack. Im Inneren dieser Kirche, die als Ort des Gedenkens an das Leid und die Schuld des Nationalsozialismus gebaut wurde, findet er ihn angemessen. „Die Verarbeitung all dessen wird nie enden“, ist er überzeugt.
Er ist dankbar für den anhaltenden Dienst der Schwestern, die sich der Ungeheuerlichkeit des damaligen Geschehens im Gebet stellen. Die in dieser Zeit gerissenen Wunden treiben ihn als Lehrer für Geschichte, Politik und Religion, aber auch einfach  als Mensch unvermindert um. Wenn er auf einem alten Familienfoto aus dem Jahr 1935 sieht, dass alle Brüder seiner Mutter entweder Wehrmachts- oder Arbeitsdienstuniform tragen, ist er dankbar für „die Gnade, erst später geboren zu sein.“
Besonders wertvolle Unterrichtsstunden zum Thema Nationalsozialismus waren für ihn die Begegnungen mit Zeitzeugen. Ein Erlebnis, das er am 27. Januar 2000 in Auschwitz mit Liebfrauen-Schülern hatte, bezeichnete er als das ergreifendste Erlebnis seiner gesamten Schullaufbahn. Die Gruppe war eingeladen, vor ehemaligen Häftlingen ein Requiem von Thomas Hettwer zu singen. Der Zumutung für die KZ-Überlebenden, am Gedenktag ihrer Befreiung einen Chor aus dem Land der Täter hören zu müssen, war sich Johannes Weischede in diesem Moment schmerzlich bewusst. Bevor die letzten Töne verklangen, wuchs seine Anspannung: Würde es jetzt einen Aufstand geben? – Das Gegenteil trat ein. Der enthusiastische Beifall wollte kein Ende nehmen ...

Von Dorothee Wanzek