Der "Fall" des Josef Haslinger

Missbraucht als Sängerknabe

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Manche Opfer von Missbrauch schweigen jahrzehntelang über die an ihnen verübten Verbrechen. Das Buch „Mein Fall“ von Josef Haslinger zeigt, warum. Eine erschütternde Lektüre, empfohlen von Ruth Lehnen.


Der österreichische Autor Josef Haslinger, der 2010 Stadtschreiber in Mainz war, hat nach vielen hoch gelobten Büchern nun keinen neuen Roman geschrieben, sondern einen Bericht. „Mein Fall“ berichtet über das, was das gläubige Bauernkind Josef in Stift Zwettl in Niederösterreich von Zisterziensermönchen erlitten hat. Wie ihm das genommen wurde, an das seine Seele glauben wollte, Gott. Und wie ihm jedes Zutrauen genommen wurde: in die Erwachsenen, in die Lehrer, in den Glauben, dass ein Kind Schutz erwarten darf. Als Pater Gottfried Eder sich ihm freundlich zeigte, ihm Aufmerksamkeit schenkte, um sich dann an ihm sexuell zu befriedigen und zu vergehen, lernte er, dass der Missbraucher sich so in die Seele schleichen kann, dass eine Distanzierung von ihm fast lebenslang unmöglich wird. Sein Buch zeigt, wie Menschen gebrochen und für ihr Leben beschädigt werden durch sexuellen Missbrauch. „Mein Fall“ ist eine erschütternde Lektüre. Ein Muss für alle, die sich mit der aktuellen Krise der katholischen Kirche befassen.

Ein "Schub", als er erfährt, dass der Missbraucher tot ist

„Mein Fall“ ist ein Buch, das Haslinger ursprünglich gar nicht hat schreiben wollen. Zwar hatte er in seinem Schriftstellerleben dem Thema Missbrauch schon Erzählungen gewidmet. Aber noch 2010 meinte er, er könne mit seinen „verstörenden Kindheitserfahrungen selbst Frieden schließen, ohne auf die Täter zu zeigen“. Er warf sich vor, „Mitspieler“ in ihrem „Spiel“ gewesen zu sein. Er wollte auf das Gefühl, von den Beteiligten auch geliebt worden zu sein, nicht verzichten. Er wollte sich selbst nicht „als Opfer einer strafbaren und schändlichen Handlung sehen“. Noch heute ist es ihm überaus wichtig, dass er erst spricht, nachdem die Misshandler tot sind.   
Josef Haslinger ist 64 Jahre alt. Die im Buch genannten Patres von Stift Zwettl bedienten sich eines elfjährigen Kindes. Ohne sich zu schonen, beschreibt Haslinger den „Schub“, den er erlitten hat, als er erfuhr, dass Pater Gottfried verstorben war. Er beschloss, nun endlich über den Missbrauch Auskunft zu geben. In einer fast kafkaesken Weise geriet er in die „Klasnic-Kommission“, die in Österreich an dieser Stelle tätig ist. Zweimal sagt er aus, ohne dass seine Aussagen protokolliert wurden. Beim dritten Mal wurde dann zwar mitgeschrieben, was er zu sagen hatte, aber als Schriftsteller wurde er aufgefordert, seine Geschichte selbst zu erzählen. „Herr Haslinger, Sie sind doch ein Schriftsteller. Sie können das ja alles viel besser formulieren, als ich das kann. Wollen Sie mir nicht freundlicherweise das, was Sie mir gerade erzählt haben, schriftlich zusammenfassen?“ Haslinger war zunächst fassungslos wegen dieser Zumutung. Dann begann er das zu tun, was sein Beruf ist: „alles aufschreiben“. So entstand das Buch.

Als Sängerknabe gelernt, „ohne Eltern zu leben“

In „Mein Fall“ ist auch von den Schlägen die Rede, mit denen Kinder in dieser Zeit oft und oft auch in kirchlichen Einrichtungen diszipliniert werden sollten und die nicht selten in Tortur ausarteten. Es ist von frommen Menschen, Bauern, die Rede, die der Kirche ihre Kinder anvertrauten. Und von der Einsamkeit, die seine Kinderwelt war: „In meiner Sängerknabenzeit habe ich gelernt, ohne Eltern zu leben.“   
Der derzeitige Abt von Stift Zwettl hat sich via Medien beschwert, dass Haslinger über tote Mitbrüder schlecht rede. Auf der Homepage heißt es: „Seit über 875 Jahren leben Mönche im Stift Zwettl, leben und arbeiten nach der Regel des heiligen Benedikt und lassen sich ein auf ein Leben, gewidmet der ,Gott-Suche‘“.

Josef Haslinger: Mein Fall,  S. Fischer, 20 Euro

 

Ruth Lehnen