Anstoß 49/22
Pluralistische Ignoranz
In einem Buchladen traf ich eine alte Dame. Ach, sagt sie, mir fällt zwar Ihr Name nicht ein, aber schreiben Sie nicht immer die schönen Artikel in der Zeitung?
Als ich überrascht bejahe, fährt sie fort: Sie sind aber viel jünger und dünner als auf dem Foto, das immer neben ihrem Beitrag ist. Logisch, dass mich das Lob freut. Das könnte meine Frau ruhig mal zu mir sagen, denke ich mir. Wir kommen ins Erzählen und die alte Dame lässt mich ein wenig an ihrer Lebensgeschichte teilhaben. Eine Begebenheit, die über sechs Jahre her ist, nagt immer noch an ihrer Seele.
Jahrzehntelang hat sie in einem Chor gesungen, dort auch Gitarre gespielt und als Ehrenamtliche vieles mitgemacht. Kurz vor einem wichtigen Auftritt wurde sie krank, kam ins Krankenhaus. In der ganzen Zeit ihres Krankseins hörte sie nichts von ihrem Chor. Niemand rief an, keiner kam vorbei oder richtete Grüße aus. Für sie war das eine massive Enttäuschung und es ist ihr anzuhören, dass diese noch immer nachwirkt. Einige Monate später zog sie aus der Stadt weg. Mit ihren ehemaligen Mitsängern hat sie nie darüber gesprochen. Aber noch immer trägt sie diesen Frust im Herzen, wenn sie auf das Thema kommt.
Ob hinter dem Erlebten eine Bosheit des Chores steckt, weiß ich nicht. Vermutlich ist es viel banaler: Jeder hat gedacht, es wird sich schon jemand bei ihr melden. Der Chorleiter, die Frauen aus ihrer Stimmgruppe, ... Aber keiner hat es tatsächlich gemacht. Dann hat niemand etwas von ihrer tiefen Enttäuschung mitbekommen und da sie selbst nicht darüber sprach, ist sie diesen Frust bis heute nicht los.
Vielleicht ist die Ursache das, was Psychologen pluralistische Ignoranz nennen. Einfach gesagt: Menschen fühlen sich weit weniger verantwortlich, etwas zu tun, wenn viele andere da sind, die was tun könnten. Und zum Schluss sind alle erschrocken, dass überhaupt niemand was gemacht hat.
Senderbeauftragter der katholischen Kirche beim Mitteldeutschen Rundfunk