Das bundesweite Respekt-Coach-Programm
Reden bringt Respekt
Foto: Jasmin Lobert
„Kein Respekt – beleidigen, schlagen, petzen, lügen“: das und noch mehr steht an diesem Tag an der Tafel einer fünften Klasse der Oberschule Belm im Landkreis Osnabrück. Auf der anderen Seite der Tafel steht: „Respekt – helfen, auf Eltern und Lehrer hören, nett sein, Rücksicht nehmen.“ Thorsten Blender, Respekt-Coach bei der Caritas in Osnabrück, fordert die Schülerinnen und Schüler auf: „Hebt bitte die Hand, wenn ihr das Gefühl habt, dass das auf diese Klasse zutrifft.“
Dabei zeigt er auf den Punkt „helfen“. Alle Hände der Schülerinnen und Schüler gehen in die Luft. Das war eindeutig. Genauso eindeutig ist das Ergebnis aber auch bei dem Punkt „petzen“. Bei „lügen“ zeigen in etwa die Hälfte der Schüler auf. Schulsozialarbeiter Daniel Bölte spricht aus, was alle gesehen haben: „Nicht nur bei der positiven, sondern auch bei der negativen Seite gab es teilweise viele Meldungen. Was Respekt angeht, können wir alle noch etwas dazulernen.“
Ihr habt die Macht, euch für einen respektvollen Umgang zu entscheiden
Genau aus diesem Grund ist Thorsten Blender zu Besuch. Er ist Teil des bundesweiten Respekt-Coaches-Programms des Bundesfamilienministeriums. Das Programm wurde 2018 ins Leben gerufen und zielt darauf ab, demokratische Werte und Respekt unter Jugendlichen zu fördern. Es richtet sich an Schülerinnen und Schüler ab der fünften Klasse. Dabei liegt der Schwerpunkt von der fünften bis zur siebten Klasse bei der Stärkung der Sozialkompetenzen und Konfliktstrategien, von der achten bis zehnten Klasse bei den Themen Demokratie, Extremismus und Diskriminierung. Als Respekt-Coach betreut Blender derzeit sechs Kooperationsschulen. Eine davon ist die Oberschule in Belm.
Insgesamt dreimal ist Blender in dieser fünften Klasse zu Besuch. Das Ziel: das Miteinander in der Klasse verbessern. Beim zweiten Mal fragt er zu Beginn der Doppelstunde, was die Kinder noch von seinem ersten Besuch in Erinnerung haben. Natürlich die Aufwärmspielchen. Aber auch einige inhaltliche Dinge. „Wir durften Punkte vergeben“, sagt eine Schülerin. Blender ergänzt: „Genau, wir haben uns solche Fragen gestellt wie: ‚Wie gut ist die Stimmung in der Klasse?‘ oder ‚Wie gut halten sich die Mitschüler an Regeln?‘ Und dann durftet ihr Punkte vergeben, wie ihr diese Dinge in eurer Klasse bewertet.“
Auch an diesem Tag gibt es vor der inhaltlichen Arbeit eine Übung zum Warmmachen. Nicht, dass das jemand bräuchte. Denn ungewöhnlich warm ist es im Klassenzimmer an diesem Frühlingstag sowieso schon. Weiter geht es mit der inhaltlichen Arbeit. Zu der Frage „Was bedeutet Respekt und was bedeutet kein Respekt?“ sollen sich die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen Gedanken machen. Im Anschluss werden die Ergebnisse mit der Klasse geteilt. Dann stimmen sie über jeden einzelnen Punkt ab. Dabei kommt heraus: In dieser Klasse gibt es auch respektloses Verhalten. „Ich denke, dass der Alltag in der Klasse viel mehr Spaß macht, wenn ihr diese Dinge beachtet, die hier auf der linken Seite stehen“, sagt Blender. „Es liegt an euch. Ihr habt die Macht, euch dafür zu entscheiden.“ Die Reaktion der Schülerinnen und Schüler: Kichern, wegschauen, rumalbern – während Blender erklärt, was Respekt bedeutet.
Selbstreflexion braucht viel Energie
Da platzt dem Sozialarbeiter der Kragen: „Hier wird gerade Respekt erklärt und ihr verhaltet euch ganz und gar nicht respektvoll.“ Bis zum Ende der Doppelstunde muss Blender um die Aufmerksamkeit der Kinder buhlen. Aber wer kann es ihnen verübeln. Bei knapp 30 Grad rauchen in der siebten und achten Stunde die Köpfe. Selbstreflexion fällt da nicht so leicht.
Für Blender ist das keine Seltenheit. „Die Bearbeitung von Sozial- und Konfliktkompetenzen ist besonders intensiv. Denn hier geht es nicht um eine Wissensebene, sondern um Verhaltensänderungen und Selbstreflexion“, sagt er. Sich Feedback anzuhören und sich auch mal kritisieren zu lassen, erfordere viel Energie und Geduld. Dazu kommt ein strukturelles Problem der Schulen. „Der Lehrplan hat oft nur wenig Kapazitäten für diese Art von Bildung“, sagt Blender. Es sei schwierig, überhaupt Stunden zu bekommen. Oft laufe es auf diese Randzeiten hinaus, in denen die Schüler grundsätzlich nicht mehr so aufnahmefähig sind.
So ist es auch bei Blenders drittem Schulbesuch in der fünften Klasse der Oberschule Belm. Wieder in der siebten und achten Stunde. Zu Beginn fragt Blender die Schülerinnen und Schüler, wie sie die letzte gemeinsame Doppelstunde in Erinnerung haben: laut, unruhig, heiß. „Das waren zwei anstrengende Stunden“, sagt Blender zur Klasse. An diesem Tag nimmt sich die Klasse vor, gut mitzumachen und Störungen zu vermeiden.
Heute auf dem Programm: eine Balljonglage, bei der Kommunikation und Teamgeist gefragt sind. In der immer gleichen Reihenfolge kreist ein Ball unter den Schülern umher. Fällt er herunter, beginnt das Spiel von vorne. Dann reflektieren sie, was gut und was schlecht läuft. Sie führen neue Regeln ein und probieren sie aus. Aber es nützt nichts. Irgendwann landet der Ball dann doch wieder auf dem Boden. „Na toll!“, „Mist“, „Nicht schon wieder“, „Kannst du nicht fangen?“ Dann stellt Blender eine Frage: „Was glaubt ihr? Ist es hilfreich, wenn ihr kommentiert, dass es nicht geklappt hat?“ Vereinzeltes Kopfschütteln. Eine Schülerin meldet sich: „Wenn einer nicht fängt und ihn dann alle anmotzen, dann hat er vielleicht keine Lust mehr mitzuspielen.“ Blender bringt noch einen weiteren Aspekt ein: „Wir können uns auch gegenseitig unterstützen, wenn wir gerade nicht mit werfen dran sind.“ Diese beiden Hinweise zeigen Wirkung. Beim nächsten Versuch landet der Ball zwar wieder auf dem Boden, aber die negativen Kommentare bleiben aus. Stattdessen rufen einige Schüler: „Egal“, „Nicht schlimm“, „Du schaffst das.“ Bei jedem Versuch kommt der Ball weiter. Und dann hält ihn endlich die letzte Schülerin in den Händen. Da gibt es kein Halten mehr. Die ganze Klasse springt von ihren Stühlen auf, klatscht und jubelt. Geschafft.
„Seid ihr bereit für Stufe zwei?“, fragt Blender und zaubert einen zweiten Ball herbei. Aber bevor es losgeht, sprechen sie noch einmal ihre Regeln durch: Nett sein, Ruhe bewahren, keine negativen Kommentare geben, konzentriert bleiben. Und zack, direkt beim ersten Versuch fällt keiner der beiden Bälle auf den Boden. Was für ein Erfolg. Blender gibt zu: „Wow, da könnte ihr echt stolz auf euch sein. Das hat bisher noch keine Klasse beim ersten Versuch geschafft.“
Weiterfinanzierung des Projekts unklar
An dieser Übung wird deutlich, dass die Schülerinnen und Schülern zumindest in dem Moment ihr Verhalten ändern. Auf die Frage, wie nachhaltig diese drei Termine in der Klasse insgesamt sind, antwortet Blender: „Mehr Zeit in den Klassen ist natürlich immer besser.“ Er könne bei den wenigen Besuchen nicht die ganze Klasse auf links drehen, aber immerhin erste Denkanstöße geben, auf die dann die Klassenlehrer aufbauen können. Das bestätigt auch Daniel Bölte, der Sozialarbeiter an der Oberschule Belm. Trotzdem sind die Schulen sehr dankbar für diese Angebot. „Sollten die Respekt-Coaches langfristig wegfallen, sehe ich ein riesiges Problem. Wir als Schule können dann kein umfassendes und zielgerichtetes Präventionsangebot sicherstellen. Es fehlt an Manpower, Finanzen und fachlichem Know-how“, sagt Bölte.
Und genau hier liegt das Problem: Das Bundesfamilienministerium wollte das Respekt-Coaches-Programm aufgrund von Sparmaßnahmen bereits Ende 2023 einstellen. Bis kurz vor dem Jahreswechsel wussten viele Respekt-Coaches nicht, ob sie ab Januar noch einen Job haben. Wegen dieser Unsicherheit haben sich viele von ihnen beruflich umorientiert. Und dann hat die Bundesregierung doch noch Geld für das Projekt freigegeben.
Das kam für viele Respekt-Coaches aber zu spät. Sie hatten bereits gekündigt. Während es im Jahr 2021 noch 275 Projektstandorte gab, sind es heute nur noch 165. Und das, obwohl der Bedarf steigt. Das sagt jedenfalls Kirsten Schubert, Beauftragte für Präventionsarbeit an der Oberschule am Sonnenhügel in Osnabrück – auch eine Kooperationsschule von Blender. „Ich kann es überhaupt nicht glauben, dass das Projekt eingestellt werden soll. Es gibt so viele Klassen, die einen individuellen Bedarf haben. Wenn es nach uns ginge, müsste das Programm sogar noch durch ein oder zwei Personen ergänzt werden“, sagt sie. Solche Projekte seien für die persönliche Entwicklung der jungen Menschen enorm wichtig. Aber auch in diesem Jahr müssen die Respekt-Coaches zittern. Denn wieder ist nicht klar, ob die Bundesregierung das Projekt weiterfinanziert.
Zur Sache
Im Programm Respekt-Coaches der Jugendmigrationsdienste arbeiten pädagogische Fachkräfte in der primären Prävention, um junge Menschen vor Extremismus in all seinen Erscheinungsformen, Rassismus sowie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu schützen. Zusammen mit den Kooperationsschulen erarbeiten sie umfassende Präventionskonzepte. Ziel ist es, junge Menschen dabei zu unterstützen, sich in einer pluralen, demokratischen Gesellschaft zu orientieren, ihre eigenen Positionen zu entwickeln und zu vertreten. Dazu bieten die Respekt Coaches eigene Workshops, Projekttage und Exkursionen an oder laden externe Fachleute zur Auseinandersetzung mit bestimmten Themen ein. Mehr Informationen gibt es unter: www.lass-uns-reden.de