Fastenzeit-Serie: Sabine Lindner und ihre Erfahrung mit Leid, Schmerz und ihre Lebensaufgabe

„Schatten gehört zum Licht“

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Fastenzeit-Serie: In diesem Jahr schildern Menschen, wie sie mit Ängsten, Leid und Schmerz umgehen. Im ersten Teil erzählt Sabine Lindner von ihren Erfahrungen und ihrer Suche nach der Aufgabe, die Gott ihr zugedacht hat.


Sabine Lindner an einem Lieblingsplatz mit ihrer Harfe und ihrem Hund.    Foto: privat

„Freitag, 13. März 2020 … Das Telefon klingelt öfter als sonst, Absagen aller Konzerte, Veranstaltungen, ich fühle mich entwurzelt. Das folgende Wochenende ist absolut ungewöhnlich. Ich bin ausgeloggt aus meinem straffen Pensum und sitze zwischen meinen Harfen, bei meinem Hund und kann nichts anderes als weinen und beten. Wie soll es weitergehen?“ So schildert die Erfurter Künstlerin Sabine Lindner ihre Sitaution zu Beginn des ersten Lockdowns. Sie beschließt, eine ihrer geliebten Harfen zu verkaufen. „Es fiel mir schwer, aber ich spürte zu diesem Zeitpunkt noch Existenzangst und habe keine großen Geldreserven. Doch dieser Zustand verging sehr schnell und ich betrachte es als große Gnade, dass jegliche Angst von mir abfiel.“


Erst Lockdown, dann Krankheiten und der Tod des Vaters


Es begann eine Zeit der vieler Kirchgänge und Gebete. „Ich durchlebte die Wochen im Frühling 2020 mit den Erfurter Augustinern und einigen Menschen aus der ökumenischen Gemeinde.“ Auch Gottesdienste bereitete Sabine Lindner mit viel Aufwand musikalisch und inhaltlich vor. Sie wurden alle aufgezeichnet und in der Reglerkirche hing eine große Leinwand, wo die Besucher die Videomitschnitte sehen konnten.  Halt fand sie auch im Komponieren und Texten. Sabine Lindner erfuhr viele gute Momente in der stillen Zeit. Die Monate vergingen und im Sommer waren neben den vielen Musikgottesdiensten wieder Konzerte möglich. Neben den pandemischen Herausforderungen warteten noch ganz andere schicksalhafte Aufgaben auf Sabine Lindner. Ihr Vater erkrankte schwer an Leukämie und ihre Mutter stürzte und brach sich ein Bein. Sie erinnert sich: „Als mir die ganze Tragweite bewusst wurde, überkam mich eine große Ruhe und ich spürte, dass ich bereit für das Unausweichliche war.“
Die nächsten Wochen waren dann der tatsächliche, äußere Ausnahmezustand, allerdings empfand sie keinen Moment als bedrohlich oder als Last. Sie sagt: „Die Gnade war mit mir“.
Sabine Lindner pendelte zwischen Erfurt und Gießübel bei Masserberg. Der Zustand des Vaters verschlechtere sich Mitte Juli. So nahm sie ihn mit nach Erfurt. „Vati zog ins Hospiz Sankt Martin ein, ich richtete ihm ein wunderbares Stübchen her mit seinen Lieblingsgemälden von der Wartburg, der Bibel seiner Eltern und einer Madonnenstatue, die ich den Eltern geschenkt hatte und die er besonders mochte. Es war eine Zeit intensivsten Zusammenlebens, wobei es nicht reibungslos war und vieles brach aus ihm heraus, was nicht leicht zu verarbeiten war. Gott wollte es so, dass ich sogar die Mutter im Rollstuhl noch einmal zu ihm bringen konnte. Ich werde nie vergessen, wie er sie zum Abschied segnete.“
Am 24. September spielte und sang sie im Kölner Dom in einer Nacht der Mystik. Dies teilte sie ihrem Vater mit, er war schon ohne Bewusstsein, aber sie war sicher, dass er alles versteht. „Er liebte die romanischen und gotischen Kathedralen, in dieser Nacht ist er gegangen, am Tag des Bruder Klaus aus Flüeli, von dem ich ihm viel erzählt hatte. Ich ging in den Wald und sammelte Kastanien, rote Herbstfrüchte und schmückte das Bett meines die Natur liebenden Vaters.“
Das Leben ging weiter. „Mutti lernte wieder laufen und blieb die tapfere, kluge Frau, die sie immer war.“ Aber in ihr Haus wollte sie nicht zurück. Ein neue kleine Wohnung ohne Barrieren wurde eingerichtet. „Wir teilten alles, Trauer, Erinnerungen, Freude, Wut. Meine Mutter erlebt vieles neu und wächst innerlich, aber sie braucht ein Gegenüber. Wir reden über das, was uns bewegt, weniger über Äußeres, viel über die innere Welt.“
In ihrer Weihnachtskarte, welche sie ihrer Tochter am Heiligabend 2021 gab, schrieb die Mutter: „Vieles, was mich oft belastet, sehe ich durch dich mit anderen Augen und es ist so, dass sich ein Rollentausch vollzogen hat. Jetzt lerne ich von dir, mein liebes Mädchen und fühle mich dabei reich und beschenkt.“ Auf dem großen Berggrundstück, welches ihre Mutter von ihrem neuen Zuhause aus sieht, hat Sabine Lindner in tagelanger Arbeit ein Wegkreuz aufgerichtet, eine kleine Franziskuskapelle mit Heiligenfigur gebaut und in den Hang eine Grotte für die Gottesmutter gegraben. Weihnachten stand die lebensgroße Krippe aus Edelrostmetall im Schnee: Maria, Josef und das Kind und davor brannte eine Kerze in der Stalllaterne. „An der Grotte bete ich viele ,Gegrüßt seist du, Maria‘ und ich spüre Kraft und Frieden.“
Ihre eigene Erkrankung kam für Sabine Lindner völlig unerwartet. Sie war immer gesund gewesen, hat Ausdauersport betrieben. „Ich hatte nicht einen Moment Angst, habe mich total abgeriegelt im Haus am Berg, außer Fiebersenker habe ich nichts eingenommen, das Fieber stieg bis 41,6°, ich war teilweise auch bewusstlos und bin dann auf dem Boden liegend wieder aufgewacht.“ Wenn sie nachts keine Luft bekam, ist sie bei minus zehn Grad rausgegangen machte Atemübungen.
Trotz der leidvollen Erfahrung kann sie heute sagen: „Die Zeit war für mich eine gesegnete, es gelang mir, ganz auf Gott zu vertrauen. Ich habe keine Angst vor dem Tod und freue mich auf die Ewigkeit, wie sie auch aussehen mag.“ Nach ihrer Genesung saß Sabine Lindner als erstes in der Kapelle des Katholischen Krankenhauses Erfurt und hat zur Aschermittwochsmesse gesungen.
Sabine Lindner ist ein sehr nachdenklicher Mensch. Über andere zu urteilen, alles besser zu wissen, Aggression zu schüren, das liegt ihr fern. Stattdessen findet sie Halt und Orientierung in der Stille. „Ich erforsche mein Gewissen, ich fange bei mir selbst an, ich versuche die Aufgaben zu erfassen, die Gott mir zugedacht hat: zu trösten, heilsam zu sein mit dem Klang meiner Musik, aber auch tätig zu arbeiten, dort wo es nötig ist. „Es ist schwer, anderen etwas zu raten, was sie selbst nicht spüren können. Deshalb halte ich es so, wie ich es letztes Jahr in meinem Pfingstlied geschrieben habe: ,Eine Schale will ich sein, empfänglich für Gedanken des Friedens, die leeren Hände hinhaltend.‘“
In Gesprächen mit anderen spürt Sabine Lindner, dass es ihnen gut tut, ihre Angstfreiheit und Gelassenheit zu erleben. „Das wurde mir geschenkt, ich habe mir Mühe gegeben daran mitzuwirken, aber das entscheidende Quantum ist, wie gesagt, Gnade.“
Gerade in den letzten zwei Jahren hat sie sich damit beschäftigt, was Menschen vor unserer Zeit erdulden mussten, und das lässt sie vieles relativieren. „Mein Mann Thomas arbeitet gerade an einem Projekt mit, das die Gräueltaten der Nazis in Thüringen thematisiert, und zwar in Lagern, die gar keiner bis dato kannte.“ Eine Geschichte hat sie zutiefst bewegt: „In Ohrdruf gab es ein Lager, das ein Überlebender als besonders grauenvoll benannt hat. Er gab zu Protokoll, dass ein Mann ihm sein Brot schenken wollte, wenn er ihn erwürgt, ihn von seinen Qualen erlöst. Wie schlecht muss es einem Menschen gehen, der so etwas als einzigen Ausweg sieht?“


Vielleicht gibt Gott mir die Kraft, in anderen ein Licht anzuzünden


„Über was reden wir heute eigentlich?“, fragt sich die Künstlerin. „Was beklagen wir? Wir haben noch so viel Wohlstand, ja ich weiß, man nahm uns die Freiheit. Freiheit? Ich bin frei, frei im Geist, ich habe die Wälder, meine Mutter, meinen Mann, meinen Hund, viele wunderbare Menschen an meiner Seite und ich will ein Rad im Getriebe der Hoffnung sein.“
Sabine Lindner kann gerade sehr gut auf große Reisen verzichten, denn ihre innere Reise macht sie reich. „Vielleicht sagt der deutsche Durchschnittsbürger jetzt: ,Die läuft nicht rund! Wir wollen unser gewohntes Leben zurück!‘“ Ja, auch Sabine Lindners Leben war vorher anders, und sie vermisst die großen Kirchen, in denen sie gesungen hat. „Aber wenn ich in meinem Musikzimmer sitze und die Bilder aus Vecelay oder dem Kölner Dom betrachte, meine Heiligenfiguren, die Harfen und die Kerzen, denke ich oft: Es gibt soviel Schönheit, die es zu hüten und zu schützen gilt.“ Bei all ihrem Glauben, ihrer Kraft, ist Sabine Lindner nicht immer nur glücklich. Sie kennt die dunkle Nacht der Seele so wie Johannes vom Kreuz sehr wohl, aber sie weiß, dass der Schatten zum Licht gehört. „Ich habe gelernt, damit zu leben. Und ich fühle mich von guten Mächten wunderbar geborgen.“ In die Fasten- und Passionszeit geht Sabine Lindner sehr bewusst. Sie erinnert an ein Konzert mit dem Thema „Christi Weg des Abstiegs“. Sie sagt: „Wir leben in der Zeit der permanenten Aufstiegsorientierung und schreien laut, wenn uns scheinbar etwas verloren geht, genommen wird und der Aufstieg in den Wohlstand ohne Grenzen unterbrochen wird. Christus wählte aus Liebe den anderen Weg, den ,nach unten‘.“ Daran will sie denken in dieser Passion und an das Leid der unzähligen Lebewesen, ob Mensch oder Tier, auf dem Planeten. „Aus der Tiefe dieses Wissens möchte ich schöpfen im Brunnen des frischen Wassers der Zufriedenheit und der Verbundenheit mit allem, was lebt. Vielleicht gibt Gott mir die Kraft, noch oft in anderen ein Licht anzuzünden.“

Von Holger Jakobi