Lautstarke Kritik an Lauterbachs Reform der häuslichen Pflege
„Sie brauchen jetzt Hilfe“
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Das Urteil von Monika Stevens fällt vernichtend aus. „Das, was Gesundheitsminister Karl Lauterbach da für die häusliche Pflege auf die Beine gestellt hat, ist ein Witz, eine Verdummung von uns pflegenden Angehörigen.“ Doch nach Lachen ist der 62-jährigen Frau aus dem sächsischen Großröhrsdorf so überhaupt nicht zumute.
Seit September 2018 pflegt sie ihre inzwischen 93 Jahre alte, schwer demenzkranke Mutter quasi im Alleingang zu Hause. Die fünf Prozent mehr Pflegegeld, die sie ab Januar 2024 für die Betreuung ihrer Mutter bekommen soll, würden jedoch durch die zeitgleich ansteigenden Beiträge zu ihrer „eigenen Pflegeversicherung fast komplett aufgefressen“, sagt Stevens, die aufgrund eines Rücken- und Schmerzleidens selbst bereits Erwerbsminderungsrentnerin ist.
Die Sozialverbände teilen ihre Enttäuschung. „Wir erwarten, dass Minister Lauterbach das Kapitel Pflegereform damit für diese Legislaturperiode nicht ad acta legt, sondern zeitnah die Themen aufgreift, die diesmal hinten runtergefallen sind“, sagte jüngst Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa. Das am 26. Mai vom Bundestag verabschiedete Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz, das in diesen Tagen den Bundesrat passiert, werde „seinem Namen nicht im Ansatz gerecht“, heißt es auch beim VdK, Deutschlands größtem Sozialverband.
Zwar wurden in dem Gesetz einige Verbesserungen vor allem für die Eltern von behinderten Kindern fixiert. Doch die Angehörigen von pflegebedürftigen alten Menschen gehen weitgehend leer aus. Und dies, obwohl 80 Prozent der derzeit rund fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland nicht in Heimen, sondern von Angehörigen, also Menschen wie Monika Stevens, zu Hause versorgt werden, die dafür nicht nur ihre Freizeit opfern, sondern häufig auch gravierende finanzielle Einbußen in Kauf nehmen.
Wie aus einer jüngst publizierten Studie des VdK hervorgeht, reduzieren rund die Hälfte aller Pflegenden, zumeist Frauen, für die Versorgung ihrer Angehörigen ihre Arbeitszeit. Für die dadurch bedingten Verdienstausfälle gibt es jedoch weiter keine Kompensationen. „Da zudem das Pflegegeld seit 2017 nicht mehr erhöht wurde, zuletzt aber inflationsbedingt sämtliche Lebenshaltungskosten sprunghaft angestiegen ist, hätte man das Pflegegeld jetzt sofort um 16 Prozent anheben müssen und nicht um fünf Prozent, wie das aktuell vorgesehen ist“, erklärt Madeleine Viol, Referentin für Pflege und Altenhilfe beim VdK.
Dass im Gesetz kaum Verbesserungen für die private Altenpflege enthalten sind, liegt aber weniger am zuständigen Gesundheitsminister, der seit Wochen nicht müde wird, die herausragenden Leistungen der Angehörigen in der Pflege zu loben. Verantwortlich dafür sind nach übereinstimmender Einschätzung der Wohlfahrtsverbände vor allem die FDP und deren Parteivorsitzender Christian Lindner. „Der Bundesfinanzminister hätte hier Bundesmittel zur Verfügung stellen müssen. Das ist aber nicht geschehen“, sagt Elisabeth Fix, die Leiterin der Kontaktstelle Politik beim Deutschen Caritasverband.
„Das Beste wäre, es gäbe ein Budget für alles“
Das größte Problem an der nun vorgelegten Pflegereform aber seien weniger die fehlenden finanziellen Entlastungen als vielmehr die fehlende Entzerrung des undurchdringlich erscheinenden Gestrüpps von rechtlichen Regelungen und Einzelleistungen in der häuslichen Pflege. Schon wenn man Monika Stevens eine halbe Stunde zuhört, schwirrt einem der Kopf. Da ist von Pflegegeld und Pflegegraden von eins bis fünf die Rede, von sogenannten Entlastungsleistungen (125 Euro pro Monat), etwa für die Hilfe bei der Haushaltsführung, beim Einkaufen oder beim Putzen. Zudem gibt es noch die stationäre Kurzzeitpflege (jährlich bezuschusst mit maximal 1774 Euro), in der man seine pflegebedürftigen Angehörigen für zwei, drei Wochen unterbringen kann, wenn man in den Urlaub möchte.
Dann wieder spricht Stevens von der (ambulanten) Verhinderungspflege (jährlich bis zu 1612 Euro), die dann greift, wenn die Pflegekraft selbst mal kurz zum Arzt muss oder sich anderweitig eine kleine Auszeit nehmen möchte. Für alles gibt es bestimmte Pauschalen. „Doch oft sind Zuzahlungen zu leisten, die wir uns aber nicht leisten können. Außerdem ist alles stark bürokratisiert“, moniert Stevens. „Anträge hier, Anträge dort. Man braucht schon eine ganze Weile, bis man durch den Dschungel einmal durchblickt.“ Das bestätigen auch die Sozialverbände. „Viele Menschen wissen gar nicht, welche Entlastungsleistungen es wo gibt“, erklärt Elisabeth Fix, Expertin für Pflege und Gesundheitspolitik beim Caritasverband.
Eine Studie vom VdK in Zusammenarbeit mit der „Welt am Sonntag“ ergab jüngst, dass zwei Drittel der Pflegenden auf jede professionelle Hilfe verzichten. Demnach werden „jährlich rund 12 Milliarden Euro der möglichen Hilfen für die häusliche Pflege gar nicht abgerufen, weil entsprechende Beratungen und Angebote vor Ort fehlten, die Zuzahlungen oder die bürokratischen Hürden zu hoch sind“, sagt Pflegereferentin Viol. Dem kann die Betroffene Stevens nur beipflichten: „Die Beratung ist schlecht, oft gar nicht vorhanden. Alles müsste besser koordiniert werden. Das Beste wäre, es gäbe ein Budget für alles, über das wir Pflegende dann nach Bedarf verfügen können.“
„Zwei Jahre sind eine zu lange Durststrecke“
Zwar will die Bundesregierung demnächst immerhin zwei Leistungen der Pflegeversicherung, nämlich die Verhinderten- sowie die Kurzzeitpflege, zu einem gemeinsamen Budget zusammenfassen. Doch in Kraft treten soll diese von den Sozialverbänden schon länger angemahnte Reform erst zum 1. Juli 2025, also zum Ende der aktuellen Legislaturperiode der jetzigen Ampel-Regierung. „Die pflegenden Angehörigen brauchen aber jetzt Hilfe. Zwei Jahre sind eine zu lange Durststrecke“, mahnt Caritas-Mitarbeiterin Fix. Das sieht auch Monika Stevens so. „Wer weiß, was bis dahin ist“, sagt sie. Deutlicher mag sie nicht werden.