20 Jahre Heiligsprechung Edith Steins
Tochter Israels und der Kirche
Heiligsprechung Edith Steins am 11. Oktober 1998 auf dem Petersplatz: Mehrere zehntausend Teilnehmer verfolgten die Heiligsprechung. Vor dem eingerüsteten Petersdom hing ein Portrait der Heiligen. | Foto: kna |
Ausgerechnet an diesem Tag! Am 11. Oktober 1998, dem Tag der Heiligsprechung Edith Steins, war die Fassade des Petersdomes eingerüstet und mit einem Staubschutznetz verhüllt. Ausgespart blieben einzig das Hauptportal und die Loggia, an der ein riesiges Foto von Edith Stein, deren Ordensname bei den Karmelitinnen Teresia Benedicta a Cruce OCD lautete, angebracht war. Darauf machte die Priorin Sr. Ancilla Wißling OCD die Teilnehmenden der diesjährigen Jahreskonferenz der Edith-Stein-Gesellschaft Deutschland beim Besuch im Kölner Karmel aufmerksam. Der Anblick des eingerüsteten Petersdomes erinnerte Sr. Ancilla an Bilder, die sie von Auschwitz kennt und die sie in Verbindung bringt mit dem Gefühl großer Enge – einer Enge, die Angst macht und die sicher auch Edith Stein, ebenso wie die Tausenden von Häftlingen und Ermordeten in Auschwitz, gespürt haben wird.
Im Gottesdienst der Heiligsprechung hatte Sr. Ancilla die Lesung aus dem Buch Ester vorgetragen, in der die Königin Ester betet: „Herr, unser König, du bist der einzige. Hilf mir! Denn ich bin allein und habe keinen Helfer außer dir; die Gefahr steht greifbar vor mir. Von Kindheit an habe ich in meiner Familie und meinem Stamm gehört, dass du, Herr, Israel erwählt hast.“ (Ester 4, 17 l, m).
Die Verbindung dieses Textes zu Edith Stein ist unüberhörbar. Und sie ist brisant. Vor allem, wenn man weiß, dass auf dem Petersplatz zahlreiche jüdische Verwandte Edith Steins anwesend waren. Fürchteten die Verwandten anlässlich der Seligsprechung Edith Steins durch Papst Johannes Paul II. am 1. Mai 1987 in Köln noch eine katholische Vereinnahmung ihres Familienmitgliedes, so war es in der Zwischenzeit zumindest ansatzweise gelungen, deutlich zu machen, dass dies nicht das Anliegen der Kirche ist. Papst Johannes Paul II. hatte Edith Stein bei der Seligsprechung „herausragende Tochter Israels“ genannt. Und in der Predigt bei der Heiligsprechung hob er hervor, dass Sr. Teresia Benedicta a Cruce ihrer jüdischen Abstammung immer treu blieb und eine mögliche Rettung aufgrund ihres Getauftseins mit den Worten ausschloss: „… warum soll ich eine Ausnahme erfahren? Ist dies nicht gerade Gerechtigkeit, dass ich keinen Vorteil aus meiner Taufe ziehen kann? Wenn ich nicht das Los meiner Schwes-tern und Brüder teilen darf, ist mein Leben wie zerstört.“
Sr. Teresia Benedicta hat den Versöhnungstag, das höchste jüdische Fest als „alttestamtliches Vorbild des Karfreitags“ verstanden. Der Widder, der damals für die Sünden des Volkes geschlachtet wurde, stellt das makellose Gotteslamm dar. „Dort auf Golgotha war das wahre Versöhnungsopfer vollbracht worden.“ So konnte Sr. Teresia Benedica a Cruce den Worten des Paulus in der zweiten Lesung folgen: „Ich will mich allein des Kreuzes Jesu Christi rühmen“ (Galaterbrief 6,14). Durch dieses Leiden Christi sind wir Erlöste.
Edith Stein wollte am Erlösungswerk Christi durch ihr Leben als Karmelitin und durch ihr Eintreten für die Menschen mitwirken. Diese Haltung verdichtete sich nicht zuletzt durch die existentielle Bedrängnis einer von Hitler angekündigten „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Am Passionssonntag 1939 bot sich Sr. Teresia Benedicta in einem Weihegebet gegenüber der Priorin von Echt „dem Herzen Jesu als Sühneopfer für den wahren Frieden an … dass die Herrschaft des Antichrist, wenn möglich ohne einen neuen Weltkrieg zusammenbricht und eine neue Ordnung aufgerichtet werden kann“. Dieses „Angebot“ zog sie auch nicht zurück, als deutlich war, es geht nicht „nur“ um ein Gebetsopfer, sondern um ein Lebensopfer, um ihr Lebensopfer und um das ihrer Schwester Rosa. Welch endgültige Ernsthaftigkeit!
Es ging Sr. Teresia Benedicta vom Kreuz nicht um Lust am Leiden. Diese in Psychologie und Philosophie studierte Frau wusste zu unterscheiden. Das, worum es hier ging, übersteigt die persönlichen Kräfte, übersteigt den eigenen Willen. Es braucht dazu den Geist Christi und den Segen des Kreuzes. Dies bezeugt auch ihr Name: Teresia, die vom Kreuz Gesegnete. Sie schrieb einmal: „Nur aus der Vereinigung mit dem göttlichen Haupt bekommt menschliches Leiden sühnende Kraft.“ Edith Steins Jom Kippur 1891, Tag ihrer Geburt am 12. Oktober, vollendete sich für Sr. Teresia Benedicta a Cruce am 9. August 1942 in Auschwitz. Der Tag ihrer Ermordung wird zum eigentlichen Geburtstag der Heiligen. Sie ist Blutzeugin der Versöhnung bis heute – einer durch und durch versöhnungsbedürftigen Welt. Diese Versöhnungsbedürftigkeit erstreckt sich bis in den Vatikan. Er ist nach wie vor „Baustelle“, auch wenn das Gerüst an der Fassade längst entfernt ist.
Die Priorin des Kölner Karmels, Sr. Ancilla Wißling, hält die Schatulle mit Asche aus Auschwitz. Sie sagte dazu: „Da ist nichts von Edith Stein drin, aber sie war ja mit allen Menschen verbunden.“ | Foto: Katharina Seifert |
Wahrheitssuche führte zu Jesus Christus
In der von Papst Franziskus am 19. März dieses Jahres veröffentlichten Enzyklika Gaudete et exultate (Freut euch und jubelt) steht das Thema „Heiligkeit“ im Mittelpunkt. Er möchte deutlich machen, dass der Herr jeden von uns erwählt, damit wir in der Liebe „heilig und untadelig leben vor ihm“ (Epheserbrief 1,4). Möchte er das Thema „Heiligkeit“ vom Sockel der besonders dafür Auserwählten herunterholen? In diesem Sinne jedenfalls kommt er auch auf Edith Stein zu sprechen: „Denken wir mit der heiligen Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein) daran, dass viele von den einfachsten Gliedern des Volkes die Gestalter der wahren Geschichte sind: ‚Aus der dunkelsten Nacht treten die größten Propheten – Heiligengestalten hervor. Aber zum großen Teil bleibt der gestaltende Strom des mystischen Lebens unsichtbar. Sicherlich werden die entscheidenden Wendungen in der Weltgeschichte wesentlich mitbestimmt durch Seelen, von denen kein Geschichtsbuch etwas meldet. Und welchen Seelen wir die entscheidenden Wendungen in unserem persönlichen Leben verdanken, das werden wir auch erst an dem Tage erfahren, an dem alles Verborgene offenbar wird‘.“
Edith Steins Bestreben war es sicher nicht, heute weltweit als Heilige verehrt zu werden. Sie suchte lediglich danach, dem Plan, den Gott mit ihr hatte, zu folgen und daraus ihr Leben froh und fruchtbar zu entwickeln. Was sich so einfach anhört, ist doch so schwer zu verwirklichen. Durch Edith Steins Suche nach Wahrheit und ihr Finden dieser in Jesus Christus wird sie für uns zum Vorbild im Glauben. Das ist der Grund, sie durch die Heiligsprechung weltweit bekannt zu machen und zu verehren.
Am Tag der Heiligsprechung fiel auf dem Petersplatz nicht nur der eingerüstete Petersdom ins Auge. Der Weg zu den Stufen des Altars und die Brüstung der Loggia mit dem tiefen Blick der „treuen Tochter der Kirche“, wie der Papst Sr. Teresia Benedicta nannte, waren geschmückt mit großen roten Gladiolenbüschen, die wie Feuerstellen loderten – ein Anklang an die große Liebe, die Edith Stein für die Menschen aufbrachte, an die vom Heiligen Geist bewegte Frau, an die zutiefst in Christus verbundene Märtyrerin.
Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) war einer der wenigen Rundfunkanstalten, die den Gottesdienst im Hörfunk live übertrugen, kommentiert von Msgr. Eberhard Prause. Der Festtag der Heiligsprechung Edith Steins am 11. Oktober 1998 wurde am Abend mit einem Konzert des MDR-Sinfonieorchesters unter der Leitung von Howard Arman beschlossen. Neben dem Te Deum von Krysztof Penderecki, einem Landsmann des Papstes, erklang auch der Pfingsthymnus von Edith Stein, dessen Schlusszeile lautet: „Heiliger Geist – Schöpfer des All(s).“ Die Priorin des Kölner Karmel Sr. Ancilla Wißling OCD schilderte uns, dass sie diesen Text am Tag der Heiligsprechung Edith Steins neu verstand. Bezugnehmend auf ein klassisches Heilig-Geist-Lied sagte sie: „Der Geist des Herrn durchweht das All – Alles – auch hier und jetzt!“