23. Mai: Das Grundgesetz wird 75

Unsere Stimme ist gefragt

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Adenauer unterzeichnet Grundgesetz
Nachweis

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In Verantwortung vor Gott und den Menschen“ – Konrad Adenauer unterschreibt am 23. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
 

Am 23. Mai wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Es war gedacht als provisorische Verfassung und hat sich als erstaunlich stabil erwiesen. Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof erklärt, warum die christlichen Wurzeln des Grundgesetzes wichtig sind – und wie wir sie stärken können.

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Aufteilung in Bundesländer, der Sozialstaat – für den ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof bilden diese Grundsätze den Stamm eines großen und stabilen Baumes. Einen „festen Stamm, der unverrückbar in der Landschaft steht“ nennt Kirchhof die deutsche Verfassung. Doch der Stamm und seine Äste – die Gesetze – sind alleine nicht stabil. „Die Verfassung ist wie ein Baum. Sie wächst aus ihren Wurzeln“, sagt Kirchhof. Die Wurzeln des Grundgesetzes sind für Kirchhof: das Christentum, der Humanismus, die Aufklärung und die sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Blättert man durchs Grundgesetz, fallen viele Punkte auf, die gut zum Christentum passen. „Das Grundgesetz ist eine aus dem Christentum und dem christlichen Denken entwickelte Verfassung“, sagt Kirchhof. „Aber es eine Verfassung für alle Menschen, mögen sie religiös oder nicht-religiös sein.“ 

Am Anfang der Verfassung steht Gott

Schon im ersten Satz geht es los: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ habe sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben. Es war allerdings nicht das Volk, sondern der Parlamentarische Rat unter Vorsitz des überzeugten Katholiken und ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der als verfassungsgebende Versammlung für das damalige Westdeutschland das Grundgesetz formulierte. Nach dem Versagen der Weimarer Verfassung und den Schrecken der Nazi-Herrschaft mit dem Zivilisationsbruch des Holocaust sollte die Anrufung Gottes im Vorwort der Verfassung klarmachen, dass kein Staat allmächtig ist. 

Paul Kirchhof
Paul Kirchhoff. Foto: imago/Metodi Popow

In Artikel 1, Satz 1 steht dann der wohl wichtigste Satz des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Auch das eine christliche Überzeugung: Der Mensch ist Ebenbild Gottes und hat daher eine Würde, die ihm niemand nehmen darf. Unantastbar steht da. Nicht unverletzlich. „Ich darf diese Würde nicht mal antasten, nicht mal berühren. Ein fordernder Satz, der die gesamte Verfassung inspiriert und leitet“, sagt Kirchhof. 

Der Schutz von Ehe und Familie und sogar der konfessionelle Religionsunterricht haben in Deutschland Verfassungsrang. Ebenso finden sich im Grundgesetz Prinzipien der katholischen Soziallehre. Und nicht zuletzt übernimmt es Regeln für die rechtliche Stellung der Kirchen aus der Weimarer Reichsverfassung. Das Grundgesetz begründet ein kooperativ-partnerschaftliches Verhältnis von Staat und Kirchen.

Für Kirchhof eine sinnvolle Konstruktion. Denn schließlich kann sich der Staat seine Wurzeln nicht selbst erschaffen: „Dieses Grundgesetz ist nicht voraussetzungslos.“ Es sind die inneren Überzeugungen und Werte der Menschen, die in der Verfassung konkret werden. Damit sichert die Verfassung die Freiheit der Menschen. Doch Freiheit bedeutet auch Verantwortung. Ohne sie kann der Staat an der eigenen Freiheit scheitern. „Würde jemand als Diogenes in der Tonne leben“ – also ohne Arbeit und ohne Verpflichtungen anderen gegenüber – „hätte er das Recht nicht verletzt. Aber wenn die Mehrzahl sich so verhielte, wäre dieses Wirtschafts- und Sozialsystem an seiner eigenen Freiheitlichkeit gescheitert“, sagt Kirchhof. Es braucht innere Bindungen der Menschen. Sie kommen „von den Familien, den Kirchen, den Bildungseinrichtungen, den Sportvereinen“.

Viele Menschen sehen nur noch ihre Rechte

Doch die Institutionen kriseln. „Die Kirchen sind derzeit schwach. Teilweise selbst verschuldet“, sagt Kirchhof. „Und die Parteien vermitteln das Gemeinwohlinteresse nur noch als Teilanliegen in der parteipolitischen Antithese.“ Er beobachtet „eine Entwicklung zu einer Vereinzelung, die den inneren Zusammenhalt und damit die Demokratie ernsthaft gefährdet“. Denn viele Menschen sehen heute nicht mehr, dass sie individuelle Rechte haben, aber gleichzeitig auch in eine Gemeinschaft eingebunden sind. Mit Pflichten und Verantwortung.

Christen, so sagt Kirchhof, müssten sich daher aktiv einbringen in den Staat des Grundgesetzes: wählen gehen, ihre Abgeordneten ansprechen, sich in Parteien und Institutionen engagieren. Der Staat wiederum dürfe keine Werte und inneren Haltungen vorschreiben, „muss aber die Wurzeln der Verfassung hegen und pflegen“.

Kirchhof wünscht, dass Theologen und Bischöfe entdecken, dass die Kirche „sich nicht so sehr mit sich selbst beschäftigen muss, sondern einen missionarischen Auftrag in Deutschland hat“. Die Kirchen sollten ihre Stimme erheben, nicht im parteipolitischen Kleinklein, nicht moralisierend, aber um Orientierung zu geben in den großen Fragen des Lebens. Sie hätten die Aufgabe, sich bei aktuellen Themen sachkundig zu machen, die Bedeutung der Themen zu gewichten und „eine Lösungsperspektive zumindest anzudeuten“.

Kirchhof sieht viele Themen für die Kirchen: Fluchtursachen und deren Bekämpfung, den „Schutz des Lebens und der menschlichen Freiheit, den Schutz der Ehre in dieser aufgeregten digitalen Welt und in der Verfremdung der Individualität durch künstliche Intelligenz“, die fehlerhafte Verteilung der Wirtschaftsgüter angesichts einer Übermacht der Finanzmärkte. Er ist überzeugt: Wenn die Kirchen den Gegenwartsauftrag des Christentums neu entdeckten und die Nächstenliebe vor dem Eigeninteresse betonten, könnten sie in orientierungslosen Zeiten dringend nötige Impulse geben. Und Hoffnung stiften. Sozusagen als Dünger für die alten Wurzeln des Grundgesetzes.

Zur Person
Paul Kirchhof ist Verfassungs- und Steuerrechtler. Er ist in Osnabrück geboren, studierte in Freiburg und München. Der heute 81-jährige Katholik  lehrte zunächst in Münster und ab 1981 als Professor für Staatsrecht an der Universität Heidelberg. Von 1987 bis 1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts.
 

Ulrich Waschki