Zum geistlichen Umgang mit dem Missbrauch in der Kirche
Versöhnung, die noch aussteht!
Jesuitenpater Stefan Taeubner hielt am 31. März eine Fastenpredigt in der Leipziger Propstei. Inhaltlich ging es ihm um den geistlichen Umgang mit dem Missbrauch in der Kirche und die noch ausstehende Versöhnung.
1. Die Bußfeiern
Aschermittwochsfeier in Cebu auf den Philippinen, 2002, im Zentrum der Schwestern für ausgestiegene junge Prostituierte, die dort Schutz, Aufnahme, Heilung und neue Orientierung für ihr Leben suchen. Wir beginnen die Bußliturgie. Ich als Priester komme ins Stocken:
Wer bittet hier wen um Vergebung und ruft wen zur Buße und Umkehr auf? Bin ich als Priester jetzt wirklich dran, diese armen Frau zur Buße aufzurufen: Bekehrt euch, ihr Sünderinnen? Ich merkte, hier stimmt etwas nicht, hier werden moralische Gewichte verschoben. So suche ich doch „Splitter“ in den ohnehin zerrissenen Herzen derer, denen massiv Gewalt angetan wurde, und benenne nicht die „Balken“ der Männer und der Gesellschaft, von denen sie betroffen wurden.
Muss nicht viel mehr zunächst ich bei Ihnen um Verzeihung bitten, stellvertretend für Männer, Reiche, Weiße, die hier her gekommen sind, und ihnen so viel Leid, Unrecht und Qual zufügen, und meinen das ganze Geschehen dann mit ein bisschen Geld abwickeln zu können, so wie ich es draußen auf den Straßen in der Nacht beobachtet hatte. Ich habe den Gottesdienst dann mit einer stellvertretenden Bußbitte begonnen, gerichtet an die Frauen.
Warum erzähle ich das? Weil ich es bisher in Deutschland vermisse, zu dem Thema um das es hier geht.
Ich beschreibe die andere „Bußfeier“ als Kontrast: Das war in Hamburg, im Mariendom, der Bischofskirche, die Abendmesse am 29. September 2018. Es war der Tag, an dem sich die Bischöfe überall in Deutschland mit Hirtenbriefen an ihre Gläubigen wandten, um das Ergebnis der Missbrauchsstudie von Priestern, Diakonen und Ordensmännern in der katholischen Kirche vorzustellen. Sichtbar schwer fiel es dem vorstehenden Priester vom Ambo aus, überhaupt die Worte „Missbrauch durch katholische Priester“ deutlich auszusprechen. Sofort danach wurde die anwesende Gemeinde zu einer Art „Bußliturgie“ aufgefordert: Lieder und Psalmen mit dem wiederholten Inhalt: „Herr vergib uns, denn wir haben gesündigt, wir haben große Schuld auf uns geladen …“ Ich saß hinten in der Bank zwischen Deutschen, Filipinos und Polen und dachte: Wieso müssen diese hier jetzt um Vergebung ihrer großen Schuld bitten? Da wurde doch eben noch die Schuld ganz anderer peinlich angesprochen: Die massiven Verbrechen zahlreicher Priester der Kirche und das Wegschauen, Vertuschen und Versagen von Verantwortlichen und Bischöfen.
Und wieder, zum Aschermittwoch 2019, lese ich von Botschaften der deutschen Bischöfe mit dem Tenor: Die Kirche müsse nun Buße tun, sich in Sack und Asche kleiden – und wundere mich: Die Kirche? Die Gläubigen?
2. Als Braut Christi „erwischt“ ?
Aber stimmt denn dieser Aufruf? Stimmt diese Botschaft als geistliche Deutung des Geschehenen? Auch Papst Franziskus hat in seiner Predigt ein Bild verwandt, das meiner Meinung nach den Sachverhalt verfälscht, als er davon sprach: Beim Missbrauch in der Kirche sei „die Braut Christi in flagranti erwischt worden“. Das Bild ist ganz alt: Die Kirche als die Braut Christi. Und Christus ihr gegenüber als der Bräutigam (vgl. Epheser 5). Wenn aber einer Frau Gewalt angetan wird, spricht man nicht von „erwischt worden“, sondern von vergewaltigt. Sonst würde man ihr ja noch selbst die Schuld an der Tat mitgeben: Was hast du da mit dem Priester gemacht? Du bist wohl noch schuld? Erwischt, schäme dich! Nein, das verkennt ganz und gar die Situation um die es beim Missbrauch von Priestern in der Kirche geht.
Bleiben wir bei dem Bild, das der Papst gewählt hat: Einzelnen in der Kirche, mit Paulus im Bild gesprochen, der Braut Christi, ist Gewalt angetan worden und durch wen? Durch Amtsträger in der Kirche, die nach katholischer Amtstheologie gerade befugt und ermächtigt sind, Christus selbst gegenüber der Kirche zu vertreten. Sie stehen also, wieder in dem Bild gesprochen, an der Stelle des Bräutigams. Hat dann etwa der Bräutigam selbst, also Christus seine eigene Braut geschändet?
Jetzt kommen wir an den Kern des Geschehens und darauf, warum der Missbrauch durch Amtsträger in der katholischen Kirche so etwas unvergleichlich Besonderes und Schreckliches ist: Würde ein Feind von außen die Kirche angreifen, so würden alle in der Kirche dagegen zusammenstehen, sie verteidigen und die Opfer im Zweifel später sogar zu Märtyrerinnen erklären. Kommt aber der Angreifer im heiligen Gewand des Bräutigams, als verkleideter Christus, in seinem Namen und mit Autorität ausgestattet und ergreift die eigenen Schafe, wie ein Wolf, so können sich diese gar nicht wehren dagegen, sie sind in der Situation völlig machtlos, verstehen Gott und die Welt nicht mehr. Und, anstatt als Märtyrerinnen verehrt zu werden, werden die Opfer oft von der eigenen Gemeinschaft – der Pfarrei, dem Orden – ausgeschlossen, weil es nicht sein kann und darf, dass sie gleichsam vom Bräutigam selbst oder dessen heiligen Vertretern angegriffen wurden. Das erscheint jenseits jeder christlicher Vorstellung.
Sogar den von Missbrauch direkt Betroffenen kommt es vielleicht zunächst auch so vor, als hätte durch den Priester Gott selbst sie angegriffen, jedenfalls das Ganze mit seiner Autorität gedeckt, oder gar gewollt? Wie auch immer, sie können es geistlich wohl überhaupt nicht einordnen. Ihr Glaube an einen guten und heilenden Gott bricht in diesem Moment wohl zusammen: „Gott hat seine Macht verloren“, sagte mir eine Ordensschwester, der von einem Priester sexuelle Gewalt angetan wurde und: „Das Vater Unser kann ich seitdem nicht mehr beten!“
3. Die Verantwortung der Hirten
Doch, bei all dem Leiden der direkt Betroffenen. Die große und brennende Frage heute ist und bleibt diese: Was haben die Verantwortlichen über Jahre und Jahrzehnte getan und versäumt, um Täter aufzugreifen, zu isolieren und weitere Übergriffe auf wehrlose Opfer zu verhindern? Die Studie zeigte, wie sehr oft lange geschwiegen wurde, „zum Schutz und Wohl der Kirche“, wie Täter einfach nur versetzt worden und wie dann neue Taten dazukamen, neue Opfer, die hätten verhindert werden müssen. Darüber gibt es in der Öffentlichkeit und im Volk Gottes zur Zeit große Empörung, Ärger, Wut und Zorn. Und dieser richtet sich eben nicht an alle, sondern an die Verantwortlichen, die Amtsträger: Was habt ihr gemacht? Was habt ihr versäumt zu unserem Schutz? Was sind eure Konsequenzen daraus, fragen immer mehr Menschen und ganze Gruppen in der Kirche. In unseren Tagen werden nun auch immer wieder Bischöfe vor staatliche Gerichte gezogen, um sich in diesen Fragen zur verantworten. Muss es immer erst soweit kommen? Kann die Führung der Kirche nicht vorher schon ihre Verantwortung erkennen und wahrnehmen? In dieser Situation ist es dann eben völlig unzureichend, von diesen selben Amtsträgern, Bischöfen, zu hören, alle in der Kirche sollten jetzt Buße tun und sich bekehren.
4. Worte der Propheten neu hören
Wie also können wir dieses Geschehen in der Kirche geistlich deuten? Welche Geschichten und Texte aus der Tradition der Bibel helfen uns zum besseren Verständnis? Da das Zerwürfnis und die Härte der Auseinandersetzung so tief innerhalb des Volkes Gottes liegt, müssen wir wohl zunächst auf Texte aus dem Alten Testament zurückgreifen. In den Büchern der Könige und Propheten werden zum Glück manche dieser Erfahrungen aufbewahrt:
- Der Prophet Natan kommt zu König David und erzählt ihm die Geschichte von dem einen Schaf, das geraubt wurde, um den König selbst auf die Folgen seines Macht- und Amtsmissbrauchs der Frau des Uria gegenüber aufmerksam zu machen. König David bekehrt sich darauf, geht in Sack und Asche und spricht ein persönliches Bußgebet (2 Sam 12).
- In einer langen Rede befasst sich der Prophet Ezechiel mit den guten und den falschen Hirten Israels, die die Schafe Gottes nicht geweidet haben: „Mit Härte habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt. Und weil meine Hirten sich selbst geweidet und nicht meine Schaft geweidet haben, darum fordere ich meine Schafe aus ihrer Hand zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen…“ (Ez 34)
- Beim Propheten Hosea heißt es: „Mein Volk kommt um, weil ihm die Erkenntnis fehlt. Weil du die Erkenntnis verworfen hast, darum verwerfe auch ich dich, so dass du nicht mehr als Priester für mich wirken kannst.“ (Hos 4)
Der sexuelle Übergriff von Priestern gegenüber minderjährigen oder abhängigen Mitgliedern der eigenen Kirche ist vor allem ein Amts- und Machtmissbrauch und geistlich gesprochen, darauf hat Pater Klaus Mertes hingewiesen, ein Verstoß gegen das zweite Gebot aus dem Dekalog: „Du sollst den Namen Deines Gottes nicht missbrauchen!" Denn alle diese Taten wurden im Namen Gottes, des Bräutigams, wie oben gesagt, geplant, durchgeführt und oft lange danach noch abgesichert, vertuscht und das wiederum in seinem Namen und oft auch im Namen der Kirche. Das macht das Thema Missbrauch in der Kirche so unendlich tragisch, schwer und zerstörerisch. Diese Taten zerstören letztlich die Glaubwürdigkeit des Namens Gottes selbst.
5. Der Verwundete Leib Christi in der Geschichte
Neutestamentlich gesprochen geht es darum: Durch das Leiden der einzelnen Betroffenen im Leib Christi, verursacht durch Täter in besonderer Amtsstellung, wird der ganze Leib in Mitleidenschaft gezogen, wie Paulus es sagen würde: „Wenn ein Glied leidet, leiden alle anderen mit!“ (1 Kor 12). Sekundär sind nämlich fast alle „betroffen“: die ganze Pfarrgemeinde, die Ordensgemeinschaft, das Bistum. Sie alle müssen sich jetzt positionieren, sie müssen damit zurechtkommen, Kontakte werden abgebrochen, Vertrauen ist verspielt, oft entstehen enorme Verwerfungen und Spaltungen im Zuge des Bekanntwerdens und der Aufarbeitung von solchen Taten. Sie wirken wie ein Spaltpilz von innen.
Und ein Zweites: Die Wunden, die den Opfern zugefügt wurden, sind Wunden am Leib Christi selbst, der in der Geschichte immer wieder und immer neu in seinem Volk gekreuzigt wird und aufersteht. Worte aus Predigten des 2018 heiliggesprochenen Erzbischofs Oscar Romero von San Salvador. Bis in diese mystische Tiefe des Geschundenen, am Kreuz heute mit uns leidenden Christus können, ja müssen wir bei diesem Thema auch gehen, um die geistliche Tiefe ermessen zu können und um die Richtung einer Erlösung und Befreiung anzudeuten. Erst vom Kreuz aus kann wohl die Tiefe des Leidens und der Schuld erfasst und die Notwendigkeit von Vergebung und Erlösung wieder gewonnen werden.
Dem Kreuz aber nähert man sich spirituell am besten durch Anbetung, Meditation, durch Trauer- und Klagegesänge und den gemeinsam gebeteten (aktualisierten) Kreuzweg in der Gemeinde.
6. Versöhnung, die noch aussteht
Aber da ist doch auch die Pflicht zur Vergebung und Versöhnung, sagen viele Fromme. Ja, aber Vorsicht und langsam! Die so „christliche Forderung“ von Vergebung kann nicht einfach als Druckmittel angewandt werden, etwa in dem Sinne an die Betroffenen: Jetzt gebt doch endlich Ruhe, vergeben ist Christenpflicht, dann hat sich die Sache auch! So wird tabuisiert, werden Opfer kaltgestellt und noch einmal neu ausgegrenzt. Täter müssen sich nicht bekennen und keine wirklichen Konsequenzen ziehen. Gerechtigkeit wird unterbunden noch bevor Barmherzigkeit wieder wirken kann. Vor allem: Zur Vergebung kann man nicht gezwungen werden. Eine wirkliche Versöhnung in der Kirche, im Leib Christ, kann nicht einfach die Bedürfnisse der Opfer überspielen.
Zu der kirchlichen Hochzeit seiner 18-jährigen Tochter lud der Vater des Opfers auch gleich noch den Täter mit ein, der sie vor vier Jahren missbraucht hatte, damals als Gemeindevorsteher. Der Vater meinte, es sei inzwischen an der Zeit zu vergeben, und die Familie wolle in der Öffentlichkeit nicht schlecht dastehen. Die Tochter musste gehorchen. Das Opfer hatte zu allem nichts mehr zu sagen. Sie fragt sich nur im Stillen bis heute: Wie all das nur geschehen kann? Warum ihr niemand zuhört, warum der Pfarrer damals eine Anzeige verhinderte? Warum der Täter niemals öffentliche Reue bekannt hat, auch nicht bestraft wurde. Und vor allem, warum er bis heute weiterhin in der Gemeinde aktiv auftritt. In die Kirche gehen, kann sie selbst daher schon lange nicht mehr.
Versöhnung ist nicht einfach. Sie ist das Ziel. Aber es bleibt ein langer Weg für die ganze Kirche, der noch zu gehen ist. Nur die Wahrheit kann euch befreien, sagt Jesus im Johannes-Evangelium. Der Weg zur Versöhnung führt wohl nur über die schmerzhafte Anerkennung der ganzen Wahrheit.
Wir alle aber sind angesichts dieser Verwundungen zu einer ganze neuen Solidarität und Treue gerufen: Sind wir nämlich durch die Taufe zu Gliedern des einen Leibes Christi geworden, so müssen wir auch all das solidarisch leidend mittragen, was diesem Leib, der Kirche, in der Geschichte wiederfährt. Und wir sind aufgerufen, uns dafür einsetzten, dass sich das Werk Christi der Befreiung und Erlösung auch in der Kirche durchsetzen kann. Denn es ist Er selbst, der in diesem Leib, seiner Kirche, immer neu leidet und aufersteht.