Angelika Lang ist Gefängnisseelsorgerin in Dresden
Vertrauen lässt wachsen
Verbrecher bessern sich, wenn man sie möglichst hart bestraft – dieses Vorurteil hält sich, obwohl wissenschaftliche Studien das Gegenteil beweisen. Die Dresdner Gefängnisseelsorgerin Angelika Lang hat in Brasilien einen Strafvollzug kennengelernt, der Gefangenen Wertschätzung entgegenbringt.
Angelika Lang ist seit November 2017 Gefängnisseelsorgerin in Dresden. | Foto: D. Wanzek |
Seit zwölf Jahren fährt Angelika Lang immer wieder nach Brasilien. Vor wenigen Wochen konnte sie sich einmal mehr vom nachhaltigen Erfolg des alternativen Strafvollzugs überzeugen, der sich um die Jahrtausendwende im Bundesstaat Minas Gerais etabliert hat. Seit Jahren hatten die Häftlinge immer wieder gegen die menschenverachtenden Zustände in den Gefängnissen des Landes aufbegehrt. Massenrevolten und -ausbrüche waren beinahe an der Tagesordnung.
Akteure der christlichen Gefangenen-Hilfsorganisation APAC hatten seit längerem begonnen, in die Gefängnisse zu gehen und sich für eine Verbesserung der Haftbedingungen einzusetzen. Versuchsweise überließ ein Richter der Organisation schließlich eine Haftanstalt ohne staatliches Wachpersonal.
Angelika Lang war schwer beeindruckt, als sie Jahre später erstmals zu Besuch war in diesem Gefängnis, das nun „Soziales Wiedereingliederungszentrum“ hieß. Seit 1990 war die studierte Sozialarbeiterin und Kriminologin für verschiedene christliche Träger in der Straffälligenhilfe tätig. Anstelle der Atmosphäre des Misstrauens, die sie sonst aus Gefängnissen kennt, stieß sie hier auf ein Klima der Wertschätzung, das allen entgegengebracht wurde, egal ob ihr Strafmaß bei einem oder bei 24 Jahren lag.
Gefangenen wird der Schlüssel anvertraut
Dass Straftäter ihre Schuld einsehen, für ihr Tun Verantwortung übernehmen und angemessene Konsequenzen erleben, war auch in diesem Projekt ganz wichtig. Allerdings wurden die Straffälligen nicht gedemütigt. Sie wurden von Beginn ihrer Strafverbüßung an auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet, unter anderem durch soziale Kontakte zu Ehrenamtlichen, durch Aufgaben, die man ihnen innerhalb der Gefangenen-Gemeinschaft anvertraute, durch Einbeziehung der Familien und durch schrittweise berufliche Integration. Sowohl im geschlossenen als auch im halboffenen und im offenen Vollzug gab es einen „Gefangenenrat der Ehrlichkeit und Solidarität“, in dem ausgewählte und eigens geschulte Gefangene selbst Konflikte untereinander lösten, darauf achteten, dass Regeln wie „kein Alkohol, keine Drogen, keine Gewalt, keine Glücksspele“ eingehalten werden, die Aufgaben verteilten und ihren Alltag organisierten. Für Angelika Lang besonders eindrucksvoll: Gefangenen, die ihre Vertrauenswürdigkeit über längere Zeit unter Beweis gestellt hatten, wurden sogar die Gefängnis-Schlüssel anvertraut. Eine Gefangene hat Angelika Lang mit leuchtenden Augen erzählt, wie sich ihr Leben im APAC-Zentrum verändert habe: Disziplin und Liebe seien die beiden Säulen, die dafür ausschlaggebend waren. Besonders greifbar schien ihr die Wertschätzung den Gefangenen gegenüber bei geistlichen Einkehrtagen, die von Zeit zu Zeit angeboten werden. Das Gefängnispersonal samt dem Leiter steht während dieser Tage im Dienst der Häftlinge und serviert ihnen köstliches Essen. Die Tage gipfeln in einer Begegnung mit den Angehörigen, die dazu teilweise von Angestellten und ehrenamtlichen Helfern herbeichauffiert werden. Darüber hinaus gibt es wöchentliche Gruppenabende und Morgenandachten, die von den Gefangenen selbst gestaltet werden. „Nur wenn wir gut mit den Rechten der Straffälligen umgehen, kann ihr Vertrauen in den Rechtsstaat wachsen“, ist eine Erkenntnis, die in den vergangenen Jahren im brasilianischen Rechtssystem immer mehr gewachsen ist.
Lässt sich ein System wie APAC auch in Deutschland umsetzen? Angelika Lang möchte so viel wie möglich davon aufgreifen, angepasst an die hiesige Gesetzeslage. Die sei keinesfalls einheitlich. In den östlichen Bundesländern etwa sei erheblich mehr möglich als in Bayern. Sächsische Gesetze ermöglichten beispielsweise Strafvollzug in freien Formen, Wohngruppenvollzug oder bis zu halbjährigem Langzeitausgang im halboffenen Vollzug. Hier habe sich die Erkenntnis der Kriminalwissenschaft niedergeschlagen, dass sehr lange Haftstrafen keine positive erzieherische Wirkung haben, sondern zu Frustration und Resignation führen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, wieder straffällig zu werden.
Glaube kann beim Neuanfang helfen
Gefangene zu stärken und ihnen Verantwortung zu übertragen, versucht die Dresdner Gefängnisseelsorgerin, wo immer es möglich ist. 19 ehrenamtliche Mitarbeiter konnte sie in den wenigen Monaten ihrer Tätigkeit in Dresden bereits gewinnen. Während der Kar- und Ostertage hat sie mit ihnen und mehr als 30 Gefangenen beispielsweise eine – freiwillige – Begegnungswoche zum Thema „Resozialisierung und Neuanfang “ durchgeführt. Mit dabei waren auch einige ehemalige Häftlinge, die von ihrem eigenen mühsamen Neuanfang während und nach der Haft berichteten. Ein schwer abhängiger Drogendealer erzählte, wie er einen Zugang zu Gott fand und daraus Kraft schöpfte, versöhnt mit den Bediensteten der Haftanstalt zu leben.
„Der Glaube kann für Menschen, die mit ihrem Leben gescheitert sind, zu einer wichtigen Kraftquelle werden“, ist Angelika Lang überzeugt. Die Teilnehmer der Begegnungswoche ließ sie deshalb wählen, ob sie an einem christlichen Glaubenskurs teilnehmen oder sich vom Zwölf-Punkte-Programm der Anonymen Alkoholiker inspirieren lassen. Auch im Zwölf-Punkte-Programm heißt einer der Leitlinien „Eine höhere Macht kann mir helfen“. Die könne jeder definieren wie er will. Für manche ist es Gott, für andere ist es die Gruppe. Alleine sei ein gelingender Neuanfang sehr schwer, weiß Angelika Lang. Sie hofft deshalb auf weitere Ehrenamtliche, auf engagierte Gemeinden, die sich die Sorge um Straftäter zu eigen machen – zum Beispiel in dem sie eine Wohneinheit zur Verfügung stellen, in der sie nach der Haftentlassung eine Weile mitleben dürfen.
Hintergrund: APAC steht für Konsequenz, Vertrauen und Wertschätzung
Die Anfangsbuchstaben APAC stehen für „Vereinigung zum Schutz und zur Unterstützung von Strafgefangenen“ in der portugiesischen Übersetzung. In den 1970er Jahren wurde die Gefangenenhilfsorganisation von einer brasilianischen christlichen Bürgerinitiative ins Leben gerufen.
APAC eröffnete erstmals 2001 im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais ein soziales Reintegrationszentrum als Alternative zum Strafvollzug im klassischen Gefängnis. Mittlerweile gibt es rund 50 solcher Zentren in verschiedenen Bundesstaaten.
Zu den Schwerpunkten ihres Konzepts gehört eine Einbindung der Gesellschaft und die starke Einbeziehung der Inhaftierten. So wird ein APAC-Zentrum nur dann gegründet, wenn maßgebliche gesellschaftliche Gruppierungen der Region ihr Einverständnis erklärt haben. Zum Konzept gehört weiterhin eine intensive Mitarbeit Ehrenamtlicher, unter anderem in der Gestaltung spiritueller Angebote und in der persönlichen Begleitung.
In vielfältiger Weise bekommen Straffällige – auch nach schwerwiegenden Straftaten – Gelegenheit, sich in gegenseitiger Unterstützung einzuüben, sich sozial zu engagieren und Schritt für Schritt mehr Verantwortung zu übernehmen, bis dahin, dass ihnen selbst die Schlüssel für das Gefängnis anvertraut werden. Die Erfolge der APAC-Einrichtungen lassen sich unter anderem an der in wissenschaftlichen Studien erhobenen hohen Identifikation der Gefangenen mit den Zielen und der Vorgehensweise des Projektes erkennen, aber auch an den vergleichsweise niedrigen Rückfallquoten.
Im Bundesstaat Minas Gerais ist das APAC-Modell mittlerweile Bestandteil der Juristen-Ausbildung und wurde im Strafvollzugsgesetz als alternative Strafvollzugsform verankert. Weitere Bundesstaaten ziehen nach. Dr. Valdeci Ferreira, der Leiter der brasilianischen APAC-Dachorganisation, wurde kürzlich als „Sozialunternehmer des Jahres“ für Lateinamerika ausgezeichnet.
Von Dorothee Wanzek