Mit einem Plakat werden in Leipzig ausgetretene Gläubige in die Kirche eingeladen.

Was heißt hier "Ausgetreten"?

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Über die Stadt hinaus erregt ein Plakat Aufmerksamkeit, das seit einem Monat an der Leipziger Propsteikirche hängt. Gläubige, die aus der Kirche ausgetreten sind, werden zur Teilnahme an Gemeindeleben und Sakramenten eingeladen.


Viele Passanten sind in den letzten Wochen an der Leipziger Propsteikirche vor dem Plakat stehengeblieben, das aus  der Kirche Ausgetretene willkommen heißt.    Foto: Vinzent Antal

„Ausgetreten?“ steht weithin sichtbar auf zwei großen Plakaten an der Eingangs-Fensterfront der Leipziger Propsteikirche. Seit Propst Gregor Giele sie Anfang September aufgehängt hat, bleiben viele Touristen und Gemeindemitglieder hier stehen, um den kompletten Text zu lesen. Manche fotografieren den Aushang mit ihrem Handy und schicken das Bild an ihre Kontakte in den sozialen Netzwerken.
Die Teilnehmer des Gemeindetags, die am 10. September über die Zukunft der Kirche nachdachten, äußerten sich einhellig zufrieden mit der von Propst Giele initiierten Plakataktion. „Es ist höchste Zeit, dass wir solche Zeichen setzen“, fand eine Rentnerin. „Ich habe allzu oft Grund, mich für meine Kirche zu schämen. Dieses Plakat erleichtert es mir, selbst in der Kirche zu bleiben“, kommentierte eine junge Mutter.
Die Propsteigemeinde, die mehr als ein Jahrzehnt lang dem deutschlandweiten Trend entgegen gewachsen war, verzeichnet in letzter Zeit einen überdurchschnittlichen Mitgliederschwund. „Wir haben durch Austritte und Wegzüge in drei Jahren 400 Gemeindemitglieder verloren“, bedauert Gregor Giele.
Dass engagierte Katholiken aus der Mitte der Gemeinde gehen, sei ein neues Phänomen. „Leute sagen mir, sie glauben weiterhin an Gott und fühlen sich mit der Gemeinde verbunden. Mit ihrem Austritt signalisieren sie der Institution Kirche, dass sie nicht oder zu spät auf drängende Missstände reagiert hat“, sagt der Propst. „Mehrmals habe ich gehört: Ohne diesen Schritt könnte ich meinem Glauben nicht treu bleiben.“
Das Plakat und das „Exit-Telefon“, ein Gesprächsangebot an  ausgetretene Katholiken und solche, die diesen Schritt erwägen, hat er mit seinem Pfarreirat abgestimmt. Er sieht es als „hilfloses Zeichen vorhandener Ratlosigkeit.“ Er habe keine Lösungen anzubieten, möchte aber Gesprächsbereitschaft signalisieren – denen, die bereits gegangen sind und denen, die mit ihrer Kirche hadern.

Gläubige unterscheiden zwischen Gemeinde und Großorganisation
„Viele Christen erfahren in ihrer Gemeinde vor Ort Gemeinschaft und Ermutigung für ihren Glauben und für ihr Leben“, ist sein Eindruck. Die Großorganisation, die für einige schon bei der eigenen Bistumsleitung beginnt, für andere erst beim Heiligen Stuhl, empfinden sie dagegen als lebens- und glaubensfeindlich.
Die Plakate haben in der eigenen Gemeinde die Gespräche angeregt. „Unsere Kinder treten aus der Kirche aus, ich kann ihnen keine Argumente zum Bleiben liefern“, hört Gregor Giele von älteren Gemeindemitgliedern.
Reaktionen wie die von Ingeborg Walzebuck aus der Nachbargemeinde der Leipziger Propstei haben ihn bisher nicht persönlich erreicht. Es hat die 82-Jährige aufgewühlt, dass Katholiken, die der Kirche den Rücken gekehrt haben, ausdrücklich zu den Sakramenten eingeladen werden. „Das rührt an die Fundamente meines Glaubens. So leichtfertig sollten wir nicht mit den größten Schätzen unserer Kirche umgehen, die uns ja schließlich Jesus Christus persönlich anvertraut hat“, findet sie.
„Der Kirchenaustritt in Deutschland ist eine extrem komplizierte kirchenrechtliche Angelegenheit“, sagt die Erfurter Kirchenrechtlerin Professor Myriam Wijlens. Die kirchenrechtlichen Normen des Heiligen Stuhls sehen einen Kirchenaustritt, der mit dem Ausschluss aus der eucharistischen Gemeinschaft einhergeht, verbunden mit dem Abfall vom Glauben und dem Verstoß gegen die Pflicht, Gemeinschaft mit der Kirche zu wahren und einen finanziellen Beitrag zu leisten.
„Die Einladung der Propstei richtet sich ausdrücklich an Menschen, die sich durch das Verhalten der Kirche verletzt fühlen, nicht an diejenigen, die nicht mehr hinter den Inhalten des Glaubensbekenntnisses stehen“, erläutert die Kirchenjuristin.
Sie ist an vielen Verfahren beteiligt, bei denen es um sexuellen Missbrauch durch Kleriker geht. „Die meisten Betroffenen verlassen die Kirche nicht wegen des Leids, das sie durch den Missbrauch erlitten haben, sondern wegen des Leids, das sie durch den Umgang der Kirche mit dem Missbrauch erlitten haben“, weiß sie. Den Kirchenaustritt sehen sie als einziges Mittel, vernehmbar zu reagieren.

Im Seelsorgegespräch klären, ob es um einen „Glaubensabfall“ geht
Ob ein „Glaubensabfall“ beziehungsweise ein Bruch mit der kirchlichen Leitung im Sinne des Kirchenrechts vorliegt, lasse sich nur im Seelsorgegespräch klären. Im Kirchenrecht ist ausdrücklich vorgesehen, dass der Austritt gegenüber einem Vertreter der Kirche erklärt werden soll.
In Deutschland erfahren Gemeinden in der Regel mit einigem Zeitverzug von den Austritten in ihrem Zuständigkeitsbereich. Der Kirchenaustritt wird hier gegenüber einer staatlichen Behörde erklärt. Zu persönlichen Kontakten mit den Ausgetretenen kommt es oft nicht.
„Die Kirche in Deutschland geht bei ihrer Organisation der Mitgliedschaft, die ja auch mit dem staatlichen Einzug der Kirchensteuern verknüpft ist, einen weltweit einzigartigen Sonderweg“, erläutert Myriam Wijlens. Die Frage, ob eine Verweigerung des finanziellen Beitrags über die Kirchensteuer einen Bruch mit der Kirche beinhaltet, sei auch theologisch eine Herausforderung.  
Lange Zeit gingen Gemeinden in Deutschland davon aus, dass die meisten Ausgetretenen ohnehin längst den Bezug zu ihrem Glauben und der Kirche verloren haben und dass in den meisten Fällen das Geld ausschlaggebend für den Austritt ist.

„Manche suchen nach guten Argumenten zum Bleiben“
Für diejenigen, die Propst Giele bisher über seine Exit-Telefonnummer angerufen haben, waren Kirchensteuern kein Thema. Die Bereitschaft, das soziale und gesellschaftliche Engagement von Kirche und Caritas weiterhin finanziell solidarisch mitzutragen, sei weiterhin hoch. „Jemand hat mir gesagt, dass er das Geld spendet, das er sonst als Kirchensteuer abgeführt hat, ein anderer überweist es auf ein Sperrkonto“, sagt Giele. Bei manchen hatte er den Eindruck, sie suchten nach überzeugenden Argumenten, doch in der Kirche zu bleiben.
Fast alle Gemeindemitglieder, mit denen er über das Plakat ins Gespräch kommt, haben selbst schon darüber nachgedacht, aus der Kirche auszutreten. Was unterscheidet seiner Ansicht nach diejenigen, die ausgetreten sind, von denen, die noch bleiben? „Es ist die Füllhöhe des Eimers, der irgendwann überläuft“, antwortet der Priester. Erlebnisse wie das Agieren einiger Bischöfe „aus der Hecke heraus“ bei der jüngsten Synodalen Versammlung ließen den Füllstand weiter steigen. „Ich kenne absolut niemanden, bei dem der Eimer leer ist.“
Die Suche nach geeigneten Gesprächsformaten mit Ausgetretenen und Austrittswilligen geht in der Leipziger Propsteigemeinde weiter. „Was können wir ihnen anbieten? Wie erreichen wir sie? Wie können wir ihnen deutlich machen, dass sie uns wichtig sind?“ Diese Fragen werden weiterhin Thema im Pfarreirat bleiben.
Denen die gegangen sind, persönlich Briefe zu schicken, hält der Propst für wenig hilfreich. In einer früheren Pfarrstelle hat er damit jedenfalls keine guten Erfahrungen gemacht. Die Meldestellen informierten ihn mit solchem Zeitverzug über die Austritte, dass die Ausgetretenen  eher verärgert auf die Kontaktaufnahme reagierten.
Besonders ernüchternd fand er die Antwort eines Mannes: „Ich musste erst aus der Kirche austreten, um von meiner Gemeinde mal Post zu bekommen!“

Dorothee Wanzek

 

Zur Sache

Das Plakat im Wortlaut:

Ausgetreten?
Angesichts der aktuellen Situation unserer Kirche und ihres Umgangs mit den drängenden Fragen Missbrauch Schutzbefohlener, Machtverteilung und Beteiligung aller in der Kirche, Frauendiakonat und -priestertum, Anerkennung der Vielfalt der Lebensweisen
und vieles andere mehr haben wir Verständnis für Ihren Schritt – auch wenn wir ihn bedauern.
Wir möchten Sie aber wissen lassen: Bei uns sind Sie zu Gottesdiensten und Sakramenten weiterhin herzlich willkommen!

Sie denken über einen Austritt nach? Dann rufen Sie doch unser EXIT-Telefon an ... (Die Nummer ist hier nicht veröffentlicht, weil sie nicht als überregionales Angebot gedacht ist.)