Einem schwierigen Begriff in Religion, Justiz, Forschung und Medien auf der Spur

Was ist Wahrheit

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Pinocchio
Nachweis

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Pinocchio nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau – und mit jeder Lüge wird seine Nase länger.

Die Frage des Pilatus bleibt beim Prozess gegen Jesus unbeantwortet. Und bis heute ist das Problem dasselbe geblieben: Es mag die Wahrheit geben – aber ist sie für uns Menschen zu erkennen? Antwortversuche aus Religion, Justiz, Erinnerungsforschung und Medien. Ein Schwerpunkt von Susanne Haverkamp


Wahrheit in den Religionen: „Das Christentum ist eine Überzeugungsgemeinschaft, kein Wahrheits-TÜV“ 

Wenn wir über Wahrheit in der Religion sprechen, sagt Julia Knop, ist das ein anderer Wahrheitsbegriff als etwa in der Naturwissenschaft. „In Fragen des Glaubens kann man den Wahrheitsgehalt einer Aussage nicht objektiv nachprüfen“, sagt die Professorin für Dogmatik an der Universität Erfurt. „Wenn wir sagen: Gott ist die Liebe, ist das keine Sachinformation, sondern eine existentielle Erfahrung. Der Satz hat sich im Leben von Menschen als wahr erwiesen.“

Eigentlich gilt die katholische Kirche als eine, die auf ewige Wahrheiten setzt. Schließlich gibt es viele Dogmen, die es als wahr zu bekennen gilt. Doch ganz so einfach sei es nicht, sagt Knop: „Dazu muss man wissen, wie Dogmen entstanden sind: in Konfliktsituationen.“ Es sei doch auffällig, dass die Auferstehung Jesu nicht eigens dogmatisiert wurde: „Das war unumstritten, dazu brauchte es kein Dogma.“

Julia Knop
Julia Knop. Foto: Universität Erfurt

Lehrentscheidungen werden getroffen, wenn es unvereinbare Positionen zu wichtigen Fragen gibt. Auch dabei gehe es nicht primär um die Wahrheit von Sätzen, sondern um Zugehörigkeit zur Kirche, sagt Knop. „Die Dogmen definieren eine Grenze: Wer ihnen zustimmt, gehört zu uns, wer nicht, ist draußen.“ Darauf gründen Spaltungen: etwa in der Antike wegen der Trinitätstheologie oder – viel später – wegen der Unfehlbarkeit des Papstes.

Sind die Dogmen also gar nicht objektiv wahr? „Sie sind Lehre der Kirche“, sagt Knop, und als solche „formulieren sie einen Wahrheitsanspruch“. Bei aller Vorsicht, was wir als Menschen über Gott und die letzten Dinge wissen können. Und im Bewusstsein, dass sich jeder Wahrheitsanspruch im Glauben bewähren muss.

Und damit sind wir wieder bei dem anderen Wahrheitsbegriff. „Das Christentum ist eine Überzeugungsgemeinschaft, kein Wahrheits-TÜV“, sagt die Dogmatikerin. „Im Glauben geht es um existenzielle Gewissheit, nicht um abstraktes Wissen. Glaubenswahrheiten müssen sich als heilsam und bedeutsam erweisen. Sonst sind es bloß tote Sätze.“

Dass Gott existiert, dass er die Liebe ist und uns über den Tod hinaus retten will: Den Wahrheitsgehalt dieser Sätze kann man nicht beweisen. „Dass sie auf diese Wahrheiten bauen, bezeugen Menschen durch ihren Glauben: in der Tradition der Kirche, im persönlichen Umfeld, im eigenen Leben“, sagt Knop. Und in der Bibel. „Die Bibel dokumentiert ein ganzes Spektrum von Glaubenserfahrungen. Manche davon widersprechen sich. Die vier Evangelisten erzählen unterschiedlich von Jesus.“ Vielstimmigkeit sei wichtig, denn jede Glaubensbiographie sei einmalig, „eine persönliche Geschichte mit Gott“.

Ein breites Spektrum bieten auch die verschiedenen Religionen. Und die Zeit ist vorbei, dass das (katholische) Christentum als die einzig wahre Religion behauptet wird. Julia Knop verweist auf die kürzliche Reise von Papst Franziskus in den Pazifikraum, wo er sich mit Menschen anderer Religionen getroffen hat. Bei einem Gespräch mit Jugendlichen fragte er: „Wenn ihr anfangt zu streiten: Meine Religion ist wichtiger als deine … meine ist die wahre, deine ist nicht wahr ..., wohin führt das? Wohin? Antwortet mir jemand, wohin? [Jemand antwortet: „Zerstörung“]. So ist es! Alle Religionen sind ein Weg, um zu Gott zu gelangen!“

„Papst Franziskus vergleicht verschiedene Religionen mit verschiedenen Sprachen“, sagt Knop. Von denen sei auch nicht eine richtiger als die andere. Vielmehr sei Sprache Heimat, Prägung, Mittel zur Verständigung. Wenn Jesus im Johannesevangelium sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, dann, so Knop, „geht es ja auch nicht um einen Satz, sondern um eine Person“.

Das macht es komplizierter als früher. „Wenn man kirchlichen Lehren bloß gehorsam zustimmt, gibt das natürlich Sicherheit“, sagt Knop. Und stimmt der Vermutung zu, dass hinter den Streitigkeiten zwischen Reformern und Bewahrern in der Kirche auch ein unterschiedlicher Wahrheitsbegriff steckt. „Wenn einige Kardinäle mit ihren ‚Dubia‘, ihren Zweifeln, Papst Franziskus Häresie vorwerfen, dann steckt dahinter die Vorstellung, dass ein Satz entweder wahr ist oder falsch – für immer und ewig. Eine neue Lehre, die einer alten widerspricht, darf es dann nicht geben.“

Aber das Leben ist komplexer als Sätze es formulieren können. Und der Glaube ist lebendiger als eine Sammlung von Dogmen. Knop sagt: „Wenn wir glauben, dass Gott Mensch geworden ist, glauben wir, dass er sich in unsere Geschichte, in unser Leben hineingeschrieben hat. Dann ist es nicht schlimm, sondern wichtig, dass sich auch unser Glaube weiterentwickelt. Weil Gott auch heute Geschichte schreibt.“
 

Kopf mit Schubladen
Wir haben so viele Sachen im Kopf – und nicht jede Erinnerung entspricht der Wahrheit. Foto: istockphoto/Andreus

Wahrheit im Kopf: „Mit der Wahrheit ist es nie so hundertprozentig“

Herr Professor Markowitsch, wenn ich mich mittwochs daran erinnere, dass ich am Sonntag mit meiner Familie Pflaumenkuchen gegessen habe: Kann ich mich dann darauf verlassen, dass das wahr ist?

Wenn Sie ein gesunder Mensch sind, keine dementiellen Erkrankungen haben, dann mit hoher Wahrscheinlichkeit schon.

Mit welchem zeitlichen Abstand wird solch eine Erinnerung unzuverlässiger?

Das kommt auf die konkrete Situation an. Sicher kann man aber sagen, dass die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses ziemlich linear verläuft: Je länger der Zeitabstand, desto weniger zuverlässig. Wobei einzelne Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend sehr nachhaltig sein können.

Wer oder was steuert, woran wir uns erinnern?

Die Bedeutung, die ein Ereignis für uns hat – und die hängt von verschiedenen Faktoren ab. Etwa von der Häufigkeit. Wenn ich etwas oft erlebe, zum Beispiel jeden Sonntag mit der Familie am Kaffeetisch sitze, vergesse ich das einzelne Ereignis schneller, als wenn das etwas Besonderes ist. Das gilt auch für Ereignisse, die eigentlich wichtig sind. Ich habe früher in den Vorlesungen immer Joschka Fischer oder Gerhard Schröder genannt, die beide viermal geheiratet haben. Wahrscheinlich konnten die sich auch nicht mehr an jede Hochzeitstorte erinnern; da verschwimmen Ereignisse ineinander. 

Hans Markowitsch
Hans Markowitsch. Foto: imago stock&people

Wovon hängt die Bedeutung noch ab?

Von den Emotionen, die wir mit dem Ereignis verbinden. Zum Beispiel die erste Liebe, der erste Kuss – das sind so neue, große Emotionen, dass sich viele ihr Leben lang daran erinnern. Oder der Tod von nahen Angehörigen, vielleicht gerade, wenn er ganz plötzlich über eine Familie hereingebrochen ist. Solche Momente prägen sich ins Gedächtnis ein.

Sind es eher die guten oder eher die schlechten Momente, die hängenbleiben?

Eher die schlechten. Vermutlich ist das eine Folge der Evolution. Es war immer wichtiger, sich an Schlechtes zu erinnern – an Pflanzen, die giftig sind, an Fehler beim Jagen –, damit sich das nicht wiederholt. Erinnerungen an schlechte Erfahrungen und damit verbundene Angst vor ähnlichen Situationen konnten das Überleben sichern. Freude ist nicht so relevant.

Sind Erinnerungen sehr präzise oder eher allgemein?

Beides. Manche Menschen haben Flashbacks, die versetzen sie sehr konkret zurück in bestimmte – meist negative – Situationen; sie werden davon unmittelbar ergriffen mit denselben starken Emotionen wie damals. Aber grundsätzlich gilt auch hier: Je einmaliger die Situation war, desto präziser erinnern wir uns. Je mehr sich Situationen ähneln, desto weniger trennscharf sind Erinnerungen.

Können Erinnerungen auch regelrecht falsch sein?

Ja, das ist häufiger der Fall, als man denkt. Insgesamt arbeitet das autobiografische Gedächtnis anders als das Faktengedächtnis. Fakten setzen sich durch Wiederholung besser fest – das ist das Prinzip etwa des Lernens. Das autobiografische Gedächtnis wird durch Wiederholung fehleranfälliger.

Woher weiß ich, ob ich mich auf mein Gedächtnis verlassen kann?

Es ist grundsätzlich gut, skeptisch gegenüber dem eigenen Gedächtnis zu sein. Wir meinen immer, uns korrekt zu erinnern, aber der Schein trügt. Allerdings haben wir kein zweites Ich, das uns vor uns selbst warnt. Deshalb halten wir unsere Erinnerungen meist so lange für wahr, bis uns jemand eines Besseren belehrt.

Hat es Sinn, mit meinem Mann zu streiten, wenn er sich an ein Ereignis anders erinnert als ich?

Nein, eher nicht. Sie sind genauso fest von der Richtigkeit Ihrer Erinnerung überzeugt wie er. So ein Streit hat nur Sinn, wenn man die Fakten überprüfen kann, etwa durch Fotos, Videos, alte Kalender. Vielleicht auch durch Zeugen, die dabei waren – wobei deren Gedächtnis ja auch unsicher ist.

Oft entzündet sich solch ein Streit an emotionalen Themen, an Schuldfragen.

Ja, weil unser Gedächtnis die Tendenz hat, uns selbst gut dastehen zu lassen. Wir wollen ein konsistentes Weltbild haben – besonders von uns selbst. Deshalb zimmern wir uns Erinnerungen zurecht, die unserem Selbstbild entsprechen. Es geschieht nicht willentlich, sondern ganz unbewusst, dass wir uns unsere Wahrheit konstruieren. Und wir glauben fest daran, dass wir richtig liegen.

Ist Wahrheit überhaupt eine Kategorie in der Gedächtnisforschung?

Ich würde fast sagen Nein, weil eben jeder seine subjektive Wahrheit hat. Natürlich erwarten wir bei Befragungen oder Experimenten, dass eine Person nicht bewusst lügt. Aber trotzdem sind wir sicher: Wenn wir uns an etwas erinnern, dann ist es mit der Wahrheit nie so hundertprozentig.


Wahrheit vor Gericht: „Zur Wahrheit gehört auch dazu, warum etwas geschehen ist“

Thomas van Veen
Thomas Veen. Foto: Landgericht Osnabrück

Herr Veen, können Sie sich aus Ihrer Karriere an Prozesse erinnern, bei denen Sie merkten: Da lügt mir jemand die Hucke voll – und kommt damit davon?

Das Gefühl hatte ich durchaus öfter mal, auch wenn ich jetzt nicht von einer konkreten Situation erzählen kann. Aber es kommt schon regelmäßig vor, dass mich jemand mit seiner Geschichte nicht überzeugen kann. Aber dann ist der Beweis eben nicht erbracht. 

Geht es in Prozessen immer um Wahrheit?

Grundsätzlich muss man unterscheiden zwischen Straf- und Zivilprozessen. In Zivilprozessen bestimmen die streitenden Parteien, was Gegenstand des Verfahrens ist. Dabei sind sie aber verpflichtet, „vollständig und der Wahrheit gemäß“ vorzutragen, wie es in Paragraf 138 Absatz 1 ZPO heißt. 

Wahrscheinlich sind die Parteien sich aber nicht immer einig.

Nein, oft tragen sie Unterschiedliches vor. Und dann muss jede Partei die für sie günstige Behauptung beweisen. Gelingt der Partei der Beweis mit den von ihr vorzulegenden Beweismitteln nicht, darf das Gericht hiervon nicht ausgehen – aber auch nicht selbst nachforschen, was wahr ist. 

Und wie ist das im Strafprozess?

Ein Beschuldigter im Strafprozess darf vor Gericht lügen, er muss sich nicht selbst belasten. Das Gericht ist hier aber – anders als im Zivilrecht – verpflichtet, soweit das möglich ist, die Wahrheit herauszufinden.

Was gehört dabei zur Wahrheit? 

Zur Wahrheit gehört nicht nur, ob eine Tat geschehen ist und wer sie verübt hat – also der objektive Sachverhalt. Im Strafrecht gehört auch dazu, warum etwas geschehen ist, die Vorgeschichte, die Hintergründe, ob etwas zum Beispiel Vorsatz war oder Fahrlässigkeit. Und da kann die Sicht der Beteiligten auf die Wahrheit schon sehr unterschiedlich sein.

Aber Sie müssen entscheiden, welche Wahrheit wahrer ist.

Entscheidend ist am Ende die subjektive Überzeugung des Richters. Die ist Grundlage für das Urteil, nicht eine objektive Wahrheit. 

Wie kommen Sie zu dieser Überzeugung?

Das ist unterschiedlich. Die Aussagen der Beteiligten gehören dazu, vorlegbare Beweise wie etwa Urkunden, Sachverständige, Zeugenaussagen – wobei der Zeugenbeweis das schlechteste Beweismittel von allen ist. Zeugen wollen sicher meist die Wahrheit sagen, aber es gibt Grenzen der Wahrnehmung oder auch verfälschte Wahrnehmungen. 

Zum Beispiel?

Zum Beispiel bei Verkehrsunfällen die Knallzeugen, wie wir das nennen. Sie hören auf der Straße einen Knall, drehen sich um und erschließen sich dann aus dem, was sie sehen, was wohl geschehen sein muss. Und bezeugen das dann vor Gericht, obwohl sie in Wirklichkeit gar nichts gesehen haben. Sie meinen nur, etwas gesehen zu haben.

Das klingt danach, als sei es mit der Wahrheit vor Gericht ziemlich schwierig ...

Zumindest ist das Kriterium „Ist das wahr?“ nicht allein ausschlaggebend. Wichtiger ist in unserem Rechtsstaat, dass es ein gerechtes, ordentliches Verfahren gegeben hat. Wenn das erreicht ist, muss ich als Richter auch hinnehmen, dass ich manchmal die endgültige Wahrheit nicht herausfinden kann oder sogar jemanden davonkommen lassen muss.

Ist das nicht frustrierend?

Nein, ich finde das eher beruhigend, dass bei uns nicht alles erlaubt ist, um die Wahrheit aufzudecken. Keine Gewalt, keine Folter, keine Rechtsbeugung zum Beispiel. Der Staat, der verlangt, dass man sich an Regeln hält, muss sich auch selbst an Regeln halten. Und sich fragen, was es uns wert ist, in einem konkreten Fall die Wahrheit zu erfahren – und ob es wichtigere Werte gibt als die Wahrheit. Das wird heute etwa in Sachen Vorratsdatenspeicherung diskutiert. Aber die Antwort hängt natürlich auch von der Schwere der Tat ab, von der Verhältnismäßigkeit.

Erleben Sie häufiger, dass Menschen zufrieden oder unzufrieden das Gericht verlassen?

Letztlich geht es sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht um eine gerechte Abwägung der Interessen, um ein akzeptables Ergebnis innerhalb unserer Rechtsordnung. Und das gelingt auch oft. Aber natürlich verlassen auch Menschen den Gerichtssaal, die sich ungerecht behandelt fühlen, die meinen, dass es für sie keine gerechte Lösung gab und dass die Wahrheit auf der Strecke geblieben ist. Und manchmal ist das sicher auch so.

Wie gehen Sie persönlich damit um?

Professionell und mit emotionaler Distanz. Wenn ich alles, was mir möglich ist, nach Recht und Gesetz getan habe, muss ich auch lernen, damit zu leben, dass Menschen mein Urteil als ungerecht empfinden. Das ist wie mit einem Arzt, der auch nicht jeden heilen kann.
 

Marietta Slomka
Marietta Slomka präsentiert das "heute journal". ZDF / Klaus Wedding

Wahrheit in den Medien: „Guter Journalismus ist die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit“

Vor einigen Wochen richteten Chefredakteure, Intendanten und Geschäftsführer großer deutscher Medienhäuser einen Brief an den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und den ägyptischen Präsidenten Abd al-Fattah as-Sisi. Sie forderten, Journalisten einen ungehinderten Zugang zum Gazastreifen zu ermöglichen: „Wer uns verbietet, im Gazastreifen zu arbeiten, schafft die Voraussetzungen, dass Menschenrechte verletzt werden.“

Journalistinnen und Journalisten wollen dokumentieren, was passiert. Sie wollen sehen, wie Konfliktparteien handeln oder Menschen in Krisen und Kriegen leiden. Sie wollen unabhängig berichten – und die Wahrheit zeigen. Zumindest sind sie auf der Suche nach ihr.

„Wir können nicht behaupten, immer die volle und unbestechliche Wahrheit zu wissen. Aber guter Journalismus ist die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit“, sagt Marietta Slomka, die seit mehr als 20 Jahren das heute journal im ZDF moderiert. Täglich sichtet sie mit dem Redaktionsteam der Sendung die eingehenden Nachrichten. Slomka und ihre Kolleginnen und Kollegen wägen ab, was in der Sendung am Abend gezeigt werden soll. Denn nicht jedes Bild und jede Filmsequenz, die die Redaktion erreicht, sollte einem breiten Publikum gezeigt werden.

„Durch die digitalen Medien stecken wir in einer Flut von Informationen“

„Wir steuern nicht die Wahrheit, aber wir wählen aus. Das ist immer eine Abwägung, über die wir in der Redaktion oft intensiv diskutieren“, sagt Slomka. In anderen Kulturkreisen sei es üblich, die Kamera länger auf brutale Szenen zu halten. Aus dem Ukraine-Krieg habe sie Videos von Kampfszenen gesehen, die sie dem breiten Publikum so nicht präsentieren könne: „Als Journalisten haben wir die Aufgabe zu filtern. Wenn wir permanent alles zeigen würden, Folterungen, Ermordungen, aufgedunsene Wasserleichen nach Überschwemmungen, dann wäre unsere Sendung psychisch nicht mehr verkraftbar.“

Woher wissen die Journalisten, was wahr ist? Im besten Fall sind sie dabei, wenn etwas passiert. Doch nicht immer ist das möglich. Und die Suche nach der Wahrheit wird immer schwieriger. „Durch die digitalen Medien stecken wir in einer Flut von Informationen, die wir erst einmal verifizieren müssen“, sagt Slomka. „Vieles klingt plausibel, ist es aber auf den zweiten Blick gar nicht.“

In den Sozialen Medien sind Fake News verbreitet, Bilder und Videos können gefälscht sein. Etablierte Medien wie etwa die öffentlich-rechtlichen Sender überprüfen ihre Informationen – etwa mittels der Rückwärtssuche. „Da stellen wir dann zum Beispiel fest, dass das Bild gar nicht neu ist, sondern schon vor viel längerer Zeit in einem ganz anderen Kontext entstanden ist“, sagt Slomka.

Diese Arbeit wird seit Jahren immer wichtiger. Vor allem in der Kriegsberichterstattung. „Wir sprechen auch vom Kriegsnebel, in dem wir stochern. Da kommt es darauf an, Informationen und Bilder zu überprüfen, und, wenn man das nicht ausreichend leisten kann, zu sagen, wer die Angaben gemacht hat“, sagt die ZDF-Moderatorin. Transparenz ist wichtig, denn etwa bei Berichten aus der Ukraine haben die Journalisten immer wieder mit Propaganda zu tun, die vor allem von russischer Seite massiv betrieben wird.

„Die Lüge ist Teil der Kriegsstrategie. Sie wird gezielt in westliche Länder hineingetragen“, sagt Slomka und gibt zu, dass die Redaktion erst lernen musste, damit umzugehen. „Propaganda wirkt meist nicht dadurch, dass sie den Menschen sagt, was angeblich die Wahrheit sei. Sondern indem sie Zweifel streut. Zweifel an dem, was tatsächlich wahr ist.“

Kerstin Ostendorf

Zu den Personen:

JULIA KNOP (47) ist Professorin für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt und zugleich Vizepräsidentin der Uni.

HANS MARKOWITSCH (75) war von 1991 bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Er arbeitet vor allem an der Erforschung des Gedächtnisses, hat zahlreiche Bücher darüber verfasst und ist auch als Gutachter vor Gericht tätig.

THOMAS VEEN (57)  ist ein auf Zivilrecht spezialisierter promovierter Jurist. Seit 2017 ist er Präsident des Landgerichts Osnabrück und Richter am Niedersächsischen Staatsgerichtshof. Der Katholik engagiert sich ehrenamtlich in der Steuerung und Kontrolle des Schutzprozesses gegen Missbrauch im Bistum Osnabrück.