Opfer sexualisierter Gewalt
Wenn sich das Leid auf die Angehörigen überträgt
Oft leiden die Opfer sexualisierter Gewalt jahrzehntelang unter den Geschehnissen. Doch sie sind nicht die einzigen, die die Folgen des Missbrauchs zu spüren bekommen: Fast immer leiden Angehörige mit – und werden so selbst zu Betroffenen.
„Sexueller Missbrauch kann ganze Familien belasten und über Generationen hinweg gehen“, sagt Nicole Sacha. Die 50-Jährige kennt die Problematik aus eigener Erfahrung. Gemeinsam mit Christiane Kurpik möchte sie das Bewusstsein für die Auswirkungen des Missbrauchs auf die Familien der Betroffenen schärfen. Die beiden sind Mitglied in der Betroffeneninitiative im Bistum Hildesheim. Dort haben sich kürzlich Missbrauchsopfer und Angehörige bei einem digitalen Treffen über ihre Erfahrungen ausgetauscht. Auch mit Verantwortlichen im Bistum stehen die beiden über das Thema in Kontakt.
„Mittelbar Betroffene können alle Angehörigen werden: Eltern, Kinder, Geschwister, Partner und sogar Großeltern oder Enkel“, sagt Nicole Sacha. „Eltern entwickeln oft Schuldgefühle, da sie den Missbrauch nicht wahrgenommen, ihn nicht verhindert, ihr Kind nicht geschützt haben“, sagt sie. Partner leiden darunter, dass ihr Familien- oder Sexualleben nicht „normal“ verläuft. Oft erfahren sie erst Jahrzehnte nach den schrecklichen Geschehnissen davon und müssen damit fertig werden. Geschwister können über das Erlebte nicht reden, ihre Beziehung leidet. Kinder können das Trauma der Eltern erben und müssen selbst in Therapie. „Da kommen ganze Familiensysteme durch Scham, Sorge und Wut ins Wanken, wenn keine Sprache für das Unaussprechliche gefunden wird“, erklärt sie.
Angehörige werden von Zweifeln geplagt
Viele Angehörige werden immer wieder von Fragen und Zweifeln geplagt, berichten Sacha und Kurpik: Was hätte ich tun können, warum habe ich die Anzeichen nicht gesehen? Wie erkläre ich das Verhalten der Oma dem Enkel oder das des Bruders der eigenen Frau? Habe ich angesichts des Leids der unmittelbar Betroffenen das Recht, auch als Angehöriger traurig und hilflos oder auch wütend zu sein? „Und dann gibt es auch die Wut darüber, dass der lange zurückliegende Missbrauch und das Leid des anderen das eigene Leben derart bestimmen“, sagt Christiane Kurpik.
Wenn Priester oder Ordensangehörige die Täter waren, dann erweitert sich die Betroffenheit oft auf das spirituelle Leben der Angehörigen, auf das Gottesbild und die religiöse Identität. Das Grundvertrauen in Gott und die Mitmenschen wird infrage gestellt oder kommt ganz abhanden. Das kennt auch Nicole Sacha. Ihr eigenes Verhältnis zu Kirche und Religion beschreibt sie als „schwierig und schwankend“. Sie hat sich aber entschieden, in der Kirche zu bleiben und aktiv zu werden. In ihrem Umfeld hat es aber etliche Austritte gegeben.
Wenn die Kraft nicht mehr reicht
Auch Angehörige können durch die jahrelange Belastung an ihre psychischen Grenzen kommen und krank werden. „Dann ist es wichtig, selbst Unterstützung und Hilfe anzunehmen, für sich zu sorgen, sich Auszeiten zu nehmen und zu reden, wenn die eigene Kraft nicht mehr reicht oder die Seele überläuft“, sagt Kurpik. Ein Recht auf Unterstützung hat die katholische Kirche bereits 2002 in ihren Leitlinien festgeschrieben. Dort verpflichtet sie sich „dem Opfer und seinen Angehörigen […] menschliche, therapeutische und pastorale Hilfen“ anzubieten. 2010 wird dieser Anspruch erneuert.
Und wie sieht die Praxis aus? „Die Betroffeneninitiative hat zusammen mit dem Bistum eine Arbeitsgemeinschaft Fürsorge-Nachsorge auf den Weg gebracht“, erläutert Sacha. Ein aktives Zugehen des Bistums auch auf die Angehörigen hat es bislang aber nicht gegeben. „Doch wir sind weiter als in vielen anderen Diözesen“, sagt Sacha.
Kontakt: info@betroffeneninitiative-hildesheim.de
Matthias Bode