Tag der Deutschen Einheit in Gedenkstätte Marienborn
„Wir brauchen den Stachel“
Bischof Gerhard Feige predigt vor den früheren Grenz- und Zollbaracken am einstigen Grenzübergang Marienborn. Foto: hsp/pbm |
„Wir kommen jedes Jahr hierher“, sagt Karin Flügel leise, „mein Mann stammt aus Klein Wanzleben.“ Heute leben sie in Wolfsburg, aber das frühere Leben im Landkreis Börde ist Teil ihrer Biografie, und sie bewahren die Erinnerungen an die deutsche Teilung mit ihren regelmäßigen Besuchen in der Gedenkstätte Marienborn. Fester Bestandteil des jährlich am Tag der Deutschen Einheit gefeierten Gottesdienstes ist das Verlesen der Marienborner Erklärung. „Seit 1999 sprechen wir dieses Bekenntnis“, sagt Ulrich Haertel von der evangelischen Männerarbeit in Braunschweig. Laut lesen die Teilnehmer den Text: „Wir gemeinsam haben uns gegenseitig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und die Verhältnisse für zementiert gehalten.“
„Gemeinsam gestalten“ ist der Gottesdienst 30 Jahre nach der wieder erlangten Einheit überschrieben. Zwei Zeitzeuginnen berichten von ihren Erinnerungen an das Jahr 1990. Monika Brudlewski aus Oschersleben war CDU-Abgeordnete in der ersten frei gewählten DDR-Volkskammer. Auch Silvina Vieweg aus Magdeburg zog für die CDU in das Parlament ein. „Wir wollten Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie. Das ist uns nicht übergestülpt worden, das war das, was wir wollten!“, sagt Vieweg und ergänzt: „Ich kann noch heute die Nationalhymne nicht singen, ohne dass mir die Tränen kommen.“ Die ehemalige Krankenschwester Monika Brudlewski berichtet, sie habe im Wahlkampf 1990 die Begriffe Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit plakatiert, weil ihr diese in der Politik ganz besonders wichtig seien.
Auch der Westen hat finstere Seiten
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über denen, die da wohnen im finsteren Lande, scheint es hell“ heißt es in der Lesung aus Jesaja 9,1. „Kann man diesen Text auch auf unsere deutsche Geschichte beziehen?“, fragt Bischof Gerhard Feige in seiner Predigt. Die Trennung in zwei Staaten könnte nahelegen, dass sich Finsternis und Todesschatten auf die damalige DDR beziehen. „Die, wie es hieß, sozialistische ‚Diktatur des Proletariats‘ mit ihrer Scheindemokratie und ihrem Spitzelsystem waren in der Tat ein ‚drückendes Joch‘“, so Feige. „Zugleich frage ich mich aber auch, ob mit dem ‚Volk, das in der Finsternis ging‘, tatsächlich nur die DDR-Bevölkerung gemeint sein muss“.
Zum einen habe er zur selben Zeit mit der Kirche eine grundsätzlich positive Erfahrung gemacht. „Sie war zwar ins gesellschaftliche Abseits gedrängt …, dafür aber konziliar und ökumenisch gesinnt, vielfach wie eine große Familie verbunden, mit den Worten des Erfurter Pastoraltheologen Franz-Georg Friemel: ,eine Stätte der Freiheit (...) eine Gegenwelt zum verordneten Sozialismus (...) ein Schutzraum für das Menschliche‘“. Zum anderen hätten DDR-Bürger nach der Wiedervereinigung erfahren, „dass die Freiheit in einer pluralistischen Gesellschaft durchaus nicht grenzenlos, sondern auch voller Gefährdungen ist. Schon zuvor konnte man im damaligen ‚Westen‘ Opfer von Konsumzwang werden oder anderweitig unter die Räder kommen. Und der Druck, den eine Wettbewerbsgesellschaft mit sich bringt, überfordert heutzutage viele Menschen in Ost wie West. Armut ist in unserer freiheitlichen Gesellschaft kein Randphänomen mehr. Auch der Kapitalismus birgt somit die Gefahr der Todesschatten, von denen Jesaja spricht“, so Feige.
Ein Widerspruch zwischen Verheißung und Erfüllung sei auszuhalten. „Wir brauchen aber den Stachel der Verheißungen, um uns nicht mit dem abzufinden, was wir erleben und was bedrücken kann. Die Verheißung ist dann keine billige Vertröstung, sondern ein Trost, der uns anspornt, über die Erfahrung unserer Wirklichkeit hinaus unsere Hoffnung auf Gott zu setzen und zugleich immer neu das Unsere dafür zu tun, dass doch wahr werden möge, was der Prophet uns zuspricht. Ermutigt durch das Unglaubliche, was vor 30 Jahren möglich wurde, und durch die Lichtblicke, die unser Leben immer wieder erhellen, lassen Sie uns nicht müde werden, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland konstruktiv mitzugestalten und für ein geistvolles Zusammenleben einzutreten. Und vertrauen wir darauf, dass Gott uns dabei nicht allein lässt.“
Predigt und mehr Infos: www.bistum-magdeburg.de
(hsp/pbm/tdh)