Kriege stellen Christen vor große Fragen

„Wir müssen vom Frieden träumen“

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Ukraine: Panzer im Gebüsch
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Foto: picture alliance/AA/Vincenzo Circosta

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Versteckt im Gebüsch: Soldaten der ukrainischen Armee mit einem deutschen Panzer des Typs Leopard 2 in der Region Saporischschja im September 2023
 

Der Krieg in der Ukraine stellt nicht nur die Politik, sondern auch die Friedensbewegung vor große Fragen. Sind ihre Ideale an der Wirklichkeit gescheitert? Einschätzungen von Wolfgang Palaver, Präsident von Pax Christi Österreich.

Spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges galten die Slogans „Schwerter zu Pflugscharen“ und „Frieden schaffen ohne Waffen“ nicht mehr als naive Utopien, sondern als erreichbare Ideale. Wer sie heute in die Diskussion einbringt, gilt als realitätsferner Spinner. Wolfgang Palaver, Theologie-Professor und Präsident von Pax Christi Österreich, ist seit 40 Jahren in der christlichen Friedensbewegung aktiv. Mit „sehr idealistischen Vorstellungen des absoluten Pazifismus“ sei er gestartet, sagt er. Und: „Ich habe dazu gelernt.“ 

Ein absoluter Pazifismus im Sinne eines vollständigen Gewaltverzichts hält der heutigen Wirklichkeit nicht stand. Für die Ukraine wäre der Preis die Kapitulation vor den russischen Aggressoren. Statt in der EU würde sich das Land in Putins Diktatur wiederfinden. „Das wäre kein gerechter Friede“, sagt Palaver. Er zitiert den Philosophen Olaf Müller: „Absoluter Pazifismus ist eine Haltung, die ein verschlossenes Herz und verschlossene Augen hat.“ Denn er verkennt die Realität. Letztlich ist ihm auch die Lage der Überfallenen egal. 

Deshalb steht Palaver hinter dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine. „Die westliche Welt versorgt die Ukraine mit Waffen und anderen Hilfen. Das ist zwar kein gewaltfreier Widerstand, aber in der aktuellen Lage vermutlich notwendig“, sagt er. So hat auch Papst Franziskus klargemacht, dass Waffenlieferungen an die Ukraine legitim sind. In seiner Schrift „Fratelli tutti“ argumentiert der Papst, dass christliche Liebe nicht bedeutet, einen Unterdrücker einfach gewähren zu lassen. „Wer Unrecht erleidet, muss seine Rechte und die seiner Familie nachdrücklich verteidigen“ – dieser päpstliche Satz lässt sich auch auf ein ganzes Land übertragen.

„Ein Land mit Nuklearwaffen hat quasi einen Freibrief“

Palaver verweist auf Mahatma Gandhi, der von Graden der Gewaltfreiheit sprach: „Gandhi war kein absoluter Pazifist. Für Gandhi war das Schlimmste, aus Feigheit überhaupt keinen Widerstand zu leisten und damit die Gerechtigkeit aufzugeben, die zum Frieden dazu gehört.“ Palaver kritisiert sogar indirekt die westliche Welt, wenn er an den Anfang des Ukraine-Krieges erinnert: Damals hätten die westlichen Staaten die Möglichkeit gehabt, eine Flugverbotszone einzurichten und zu überwachen, um Angriffe auf Zivilbevölkerung und Infrastruktur zu verhindern. Aus Angst vor einer nuklearen Eskalation sei das aber nicht geschehen. „Mit angezogener Handbremse“ habe der Westen die Ukraine unterstützt.

Für Palaver eine bittere Lehre aus dem Ukraine-Krieg: „Ein Land mit Nuklearwaffen hat quasi einen Freibrief.“ Die Menschheit müsse daher am Ziel der Abschaffung von Atomwaffen festhalten. „Aber die bisherigen Maßnahmen greifen nicht. Heute haben wir zwölf statt ursprünglich fünf Atommächte.“ Es wäre natürlich naiv, „von Seiten der Nato oder USA Atomwaffen einseitig zurückzuziehen. Aber die Weltgemeinschaft und die großen Religionsgemeinschaften müssen sich für dieses Anliegen starkmachen. Diese Stimme muss lauter werden.“ Denn die atomare Lage ist „nukleares Roulette. Wir blenden aus, dass es ungefähr 12 500 Atomwaffen gibt, 3800 sind sofort einsatzbereit.“

Mehr Unterstützung für gewaltfreie Formen des Widerstands

Deutschland hat keine Atomwaffen, rüstet derzeit aber mit Milliardeninvestitionen auf und diskutiert darüber, wie es „kriegstüchtig“ werden kann. „Den Begriff finde ich schrecklich. Man muss verteidigungstüchtig, also im Notfall gerüstet sein“, sagt Palaver. Für ihn ist das mehr als Wortklauberei: Wenn Milliarden in Verteidigungswaffen gesteckt würden, sollte auch Geld investiert werden, um gewaltfreie Formen des Widerstands weiterzuentwickeln und zu fördern: „Eine entsprechend vorbereitete Gesellschaft kann beispielsweise durch die Verweigerung jeglicher Kooperation einer Besatzungsmacht große Schwierigkeiten bereiten und sie so international unter Druck setzen.“

In den letzten Jahrzehnten haben wir uns an Abrüstung und Verständigung gewöhnt. Das funktionierte, solange beide Seiten ein Interesse daran hatten. Heute macht Putin unmissverständlich klar, dass er keine Verhandlungen auf Augenhöhe will. Im Moment ist für eine Lösung in der Ukraine der militärische Widerstand wohl alternativlos. 

Das darf aus Sicht der Friedensethiker aber nicht dazu führen, grundsätzlich vom Vorrang der Gewaltfreiheit abzurücken. Palaver verweist auf empirische Studien, denen zufolge gewaltfreier Widerstand gegen Despoten und Unterdrücker in der Vergangenheit viel erfolgreicher war als gewalttätige Aktionen. 

Anders als der Einsatz von Waffen ist Gewaltfreiheit aber eine Haltung, die gelernt werden muss. Dazu gehört, Krieg nicht als Normalität zu betrachten, entsprechende Entscheidungen zu hinterfragen, Friedensinitiativen zu stützen. Aktionen wie die interreligiösen Friedenstreffen der katholischen Laienbewegung Sant’ Egidio bekommen unter den aktuellen Bedingungen ganz neue Bedeutung. „Während Worte des Hasses verbreitet werden, sterben Menschen in der Brutalität der Konflikte. Stattdessen müssen wir von Frieden sprechen, vom Frieden träumen“, sagt Papst Franziskus. 

Ulrich Waschki