Aufarbeitung Missbrauch
„Wir stehen noch ganz am Anfang“
picture alliance/dpa | Friso Gentsch
Im März 2022 wurde der Betroffenenrat Nord gebildet. Wie kam es dazu?
Norbert Thewes: Die Bildung von Aufarbeitungskommissionen und Betroffenenbeiräten geht zurück auf eine gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ von 2020. Damals wurden verbindliche Kriterien für die künftige Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchs formuliert, die auch die Beteiligung von Betroffenen festlegt. Im Norden haben sich die Bischöfe dann auf eine gemeinsame Aufarbeitungskommission und Betroffenenrat geeinigt – für Hamburg, Osnabrück und Hildesheim.
Es gibt viele Betroffene in den Bistümern. Neun von ihnen bilden
den Rat. Wie kam diese Wahl zustande?
Nicole Sacha: Nach einem Aufruf konnten Betroffene ihr Interesse an der ehrenamtlichen Mitarbeit anmelden. Dann hat ein unabhängiges Auswahlgremium – tatsächlich alles Leute, die nicht im kirchlichen Dienst stehen – Interviews geführt und eine Auswahl getroffen. Eigentlich ist vorgesehen, dass sich der neunköpfige Rat gleichmäßig auf die drei
Bistümer verteilt – und Männer und Frauen ähnlich stark vertreten sind.
Das ist aber nicht der Fall?
Sacha: Nein. Wir haben zwei Betroffene aus dem Erzbistum Hamburg, eine aus dem Bistum Osnabrück und sechs aus dem Bistum Hildesheim. Drei Frauen und sechs Männer.
Ließ sich der Plan nicht realisieren?
Thewes: Wir merken, dass es Betroffenen generell sehr schwer fällt sich zu melden – dazu noch in einem solchen Gremium mitzuwirken. Andere haben gesagt: „Wir hätten Interesse gehabt, wurden aber nicht angesprochen“. Eine Besonderheit unseres Rates ist, dass auch Angehörige von Betroffenen mitwirken, so wie Frau Sacha. Das gibt es anderswo nicht, hat aber einen guten Grund: Denn die Missbrauchserfahrung strahlt ja aus auf die Partner; auf Kinder, die mit traumatisierten Eltern aufgewachsen sind, auf Eltern, die sich Vorwürfe machen: Warum habe ich das nicht gesehen?
Was sehen Sie als Ihre Aufgabe? Laut Statut sollen Sie „die Weiterentwicklung des Umgangs mit sexualisierter Gewalt in der Metropolie Hamburg begleiten“. Ihr Flyer spricht eher von Interessensvertretung für die Betroffenen?
Sacha: Es geht um beides. Dass der Auftrag in den Statuten so vage formuliert ist, gibt uns die Chance, selber Schwerpunkte festzulegen – das ist auch so gewollt. Unsere Aufgabe ist nicht nur, Vertreter in die Aufarbeitungs-Kommission zu senden, sondern auch: Betroffene informieren, sie begleiten und die Interessen der Betroffenen, die wir hören, zu Gehör bringen. Ihnen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört würde.
In welchem Punkt zum Beispiel?
Thewes: Als wir etwa den Zwischenbericht der Studie in Osnabrück gelesen haben, sahen wir: Da läuft etwas völlig quer! Es wurde da von Liebesbeziehungen zwischen Priestern und Jugendlichen gesprochen. Das geht nicht, und da müssen wir laut werden. Es gibt keine Liebesbeziehung zwischen einem Priester oder Chorleiter und einem Minderjährigen. Das ist immer ein Abhängigkeits-Verhältnis. Wir sehen es als wichtigen Lernweg, dass solche Dinge verstanden werden – bis in die Bistumsspitzen. Das war für den Betroffenenrat Nord auch der Grund, beim Vatikan gegen Bischof Bode Anzeige zu erstatten. Er sprach und handelte aus unserer Sicht bis zuletzt täterorientiert.
Gibt es einen Kontakt unter Betroffenen? Eine Art Draht zwischen den verstreuten Einzelnen und Ihnen als deren Vertreter?
Thewes: Dass Betroffene sich vernetzen, war zwar nicht von Anfang an ein Ziel. Aber für uns ist das ganz wichtig: Dass Betroffene sich untereinander austauschen und sehen: Das, was mir passiert ist, ist auch anderen passiert. Das ist unglaublich entlastend. Wir haben deshalb ein „Betroffenenforum“ eingerichtet. Ein Forum, wo man verstanden und gehört wird. Eine Erfahrung, die wir – durch die Bank – gemacht haben, ist ja: Es hat unheimlich lange gedauert, bis wir an eine Person geraten sind, die uns geglaubt hat.
Wie muss man sich dieses Forum vorstellen?
Sacha: Wir machen das Forum bisher per Videokonferenz. Eben weil unser Gebiet sehr groß ist –von der Küste bis zum Harz, von Mecklenburg bis an die holländische Grenze. Da entsteht ein intensiver und freier Austausch, manchmal sehr persönlich. Da fließen dann auch Tränen. Die Bandbreite der Teilnehmer ist sehr groß.. Es kommen da auch sehr viele Fragen, ein Bedürfnis nach Informationen.
Welche Informationen fehlen denn vor allem?
Sacha: Es geht zum Beispiel um Transparenz. Was passiert mit meinen Daten? Warum höre ich nichts aus meinem Bistum? Ein großer Bereich sind die Anerkennungsleistungen. Jemand sagte beim letzten Forum: „Das war das erste Mal, dass ich mich nicht geschämt habe über Geld zu sprechen!“ Es kommt von außen ja schnell der Verdacht: Die wollen nur die Hand aufhalten!
Es fehlt also das Vertrauen in die kirchlichen Stellen?
Thewes: Ich habe schon kirchliche Mitarbeiter getroffen, die sagen: „Wenn ich Betroffener wäre, würde ich mich nicht an mein Bistum wenden.“ Das gilt vor allem in solchen Diözesen, wo der Bischof ganz klar täterorientiert ist und Täter in Schutz nimmt. Und wo man dann ein Misstrauen spürt. Ich habe das selbst erfahren: Es fordert sehr viel Kraft, sich aus der Deckung zu wagen. Dann ist es ganz wichtig, dass Betroffene in einem Bistum auf Ansprechpersonen und Mitarbeiter treffen, die das, was gesagt wird, ernst nehmen und demjenigen erst einmal Glauben schenken und zugewandt sind. Und erst in einem nächsten Schritt prüfen lassen, ob die Schilderungen plausibel sind.
Haben Sie eine Vorstellung, wie viele der Betroffenen sich bisher gemeldet haben? Wie hoch ist nach Ihrer Einschätzung die „Dunkelziffer“?
Sacha: „Dunkelziffern“ in Zahlen anzugeben wäre unseriös. Es werden Tausende sein. Die Frage ist ja auch: Wo fängt Missbrauch an? Ich kenne jemand, der berichtete: „Meine Frau hat gesagt, ich soll mich melden. Ich selbst fand das damals gar nicht so schlimm.“ Wir haben aber auch sehr viele Leute, die massivst missbraucht worden sind. Einige sind heute noch nicht so weit, dass sie darüber sprechen können. Gemeldet haben sich bisher in den drei Bistümern etwa 300, soweit ich weiß. Aber es kommen auch immer noch Meldungen dazu.
Thewes: Viele haben sich auch ausdrücklich dafür entschieden, sich nicht zu melden. Ich kenne ein Bistum, da ist eine Reihe von Betroffenen untereinander in Kontakt. Die sagen aber: Mit dem Bistum wollen wir nichts zu tun haben, weil man mit Betroffenen nicht gut umgeht. Einige können sich nicht offenbaren, andere fragen sich: Wozu ist das gut? Was habe ich davon? Mir hat ein Betroffener geschrieben: „Ich habe zweimal 5000 Euro bekommen. Für 57 Jahre Leid! Das sind weniger als 50 Cent pro Tag!“ Es ist richtig, dass der Betroffene nicht nur die Jahre des schweren Missbrauchs zählt, sondern auch die seither vergangenen mitzählt. Sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend, gerade durch Pries-ter oder Ordensleute hat gravierende Folgen für die Biografie – auf Beziehungsfähigkeit, Umgang mit Nähe und Distanz, berufliche Karrieren, Suchtproblematiken usw.
Im Juni hat ein Kölner Landgerichtsurteil für Schlagzeilen gesorgt. Dem Kläger Georg Menne wurden 300 000 Euro Entschädigung zugesprochen – danach hatten viele Angst, die Kirche stünde bald vor der Pleite. Wie sehen Sie die Folgen dieses Urteils?
Sacha: Ich glaube nicht, dass viele andere klagen werden. Es ist ein hohes finanzielles Risiko, eine enor-
me psychische Belastung. In so einem Prozess werden die intimsten Dinge im Detail offengelegt. Im Fall Menne waren besondere Voraussetzungen gegeben. Das ist nicht überall so. Viele werden aber nun Widerspruch gegen ihre Anerkennungszahlung einlegen. Trotzdem ist das Urteil für viele ein ermutigendes Signal. David gegen Goliath, und jetzt hat einmal David gesiegt.
Thewes: Wichtig ist: Das Menne Urteil hat klar gemacht – nicht nur die Tat führt zu einem Anspruch auf Anerkennungsleistung, sondern auch die Folgen: Gesundheitsschäden, biografische Brüche, Arbeitsunfähigkeit, Drogensucht. Die Hoffnung bleibt, dass die Zahlungen jetzt wenigstens in Richtung „angemessen“ gehen. Sicher, Geld macht das Geschehene nicht rückgängig. Aber Geld ist nun mal die Währung, in der der Wert eines verpfuschten Lebens anerkannt wird – und die Betroffenen das Signal bekommen: Ja, ich bin der Kirche etwas wert.
Das Ausmaß des klerikalen Missbrauchs ist seit 2010, nach den Canisius-Kolleg-Enthüllungen, bekannt. Und noch jetzt ist so vieles im Fluss, die Kommissionen starten gerade erst. Hätte man nicht schon vor 13 Jahren beginnen müssen?
Sacha: Ja, das hätte alles schon 2011 starten können. Man hätte es auch schon 20 oder 50 Jahre vorher machen können. Die Verantwortlichen in den Bistümern wussten doch alles! Ich war heute erst mit einem Betroffenen im Archiv. Aus den Akten geht ja hervor, dass die Bistumsleitungen genau wussten, wen sie da versetzen – zum Teil saßen die Täter vorher schon im Knast und wurden wieder in Gemeinden geschickt. Lange ist da weggesehen worden. Und heute müssen wir sehen: Wir stehen mit der Aufarbeitung noch ganz am Anfang.
Thewes: Ich bin noch nicht überzeugt, dass Kirche es aus eigener Kraft schafft, das Erbe des Missbrauchs zu bewältigen. Eigentlich kam erst 2020 mit der Gemeinsamen Erklärung Bewegung in die Sache. Was mir Sorgen macht, sind die Stimmen in der Kirche, die jetzt aber meinen: „Wir beschäftigen uns schon so lange mit dem Thema Missbrauch. Lasst uns endlich etwas Wichtigeres tun!“ Prof. Großbölting, der Mitautor der Münsteraner Studie, sagt dagegen richtig: „Die katholische Kirche hat, was die Aufarbeitung angeht, die Startblöcke gerade erst verlassen!“ In dieser Spannung leben auch wir im Betroffenenrat: Wir sind noch lange nicht da, wo wir hinmüssten.
Sacha: Wir versuchen gerade erst, Wege zu bahnen, wie Aufarbeitung gelingen kann. Da gibt es schon auch mal Irrwege; Dinge, die nicht gut gelingen, Missverständnisse. Aber das soll uns nicht abschrecken. Wir setzen uns zusammen und finden einen Weg.