„Der Skandal der Skandale“ von Manfred Lütz
Wissenschaft statt Vorurteil
Manfred Lütz’ Buch „Der Skandal der Skandale“ war 27 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste verzeichnet, eine Woche sogar auf Platz 1. | Foto: kna |
Manfred Lütz ist Mediziner, Theologe, Kabarettist und Bestseller-Autor. Sein jüngstes im Herder-Verlag Freiburg erschienes Buch beschäftigt sich mit der Geschichte der Kirche, vor allem mit ihren dunklen Seiten. Was ist dran an den Skandalen der Kirchengeschichte, fragt Lütz mit Blick auf die aktuelle historische Forschung und kommt zu teils erstaulichen Erkenntnissen.
Herr Dr. Lütz, hätte Papst Johannes Paul II. Ihr Buch gelesen, hätte er im Heiligen Jahr 2000, am ersten Fastensonntag bei einem Gottesdienst im Peters- dom in Rom gar kein Schulbekenntnis ablegen müssen …
Ein Schuldbekenntnis, das man ablegen muss, ist kein echtes Schuldbekenntnis. Es war das engagierte Schuldbekenntnis eines Papstes, der im 20. Jahrhundert gelebt hat, einem Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, dem Holocaust und anderen schrecklichen Katastrophen, an denen sich auch Christen beteiligt haben. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wollte der Papst diese Schuld vor Gott tragen.
Die Kirche hat also in ihrer 2000-jährigen Geschichte Schuld auf sich geladen und Ihr Buch ist gar keine Reinwaschung der Kirche?
Nein, überhaupt nicht. Man kann die Geschichte der Kirche ja als Kriminalgeschichte schreiben, wie es Karlheinz Deschner getan hat, oder als Apologie, indem man nur die Lichtgestalten betrachtet. Beides wollte ich nicht. Ich wollte den Stand der heutigen Wissenschaft zu den sogenannten Skandalen in der Kirchengeschichte allgemeinverständlich darstellen. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen, Grundlage ist das glänzende Buch „Toleranz und Gewalt“ des renommierten Kirchenhistorikers Arnold Angenendt. Um das einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, habe ich mit ihm zusammen aus den 800 Seiten auf nur 286 Seiten eine Kurzfassung gemacht, die ich von führenden Historikern habe gegenlesen lassen, damit auch alles wirklich stimmt, aber auch von meinem Friseur, damit es locker bleibt. Mein Buch ist keine Reinwaschung der Kirche. Die Skandale, die Skandale waren, werden auch so benannt.
Welche zum Beispiel?
Die Kreuzzüge waren ein Skandal. Die frühen Christen waren Totalpazifisten. Für sie wäre die Vorstellung entsetzlich gewesen, dass Christen im Zeichen des Kreuzes Krieg führen. Aber – auch das muss man wissen – die Kreuzzüge waren keine Heiligen Kriege zur Verbreitung des Glaubens. Es sollten ursprünglich Verteidigungskriege für die bedrängten Christen im Osten sein, die die Christen im Westen dringend um Hilfe gebeten hatten. Aber sie liefen völlig aus dem Ruder. Es kam zu furchtbaren Gräueltaten.
Auch die Ketzertötungen waren ein Skandal. Vor allem deswegen, weil die Christen in den ersten 1000 Jahren die einzige größere Religion waren, die Glaubensabweichler eben nicht tötete. Jesus hatte gesagt, man solle Unkraut und Weizen gleichermaßen wachsen lassen und das Unkraut nicht ausreißen, sondern das dem Herrn am Jüngsten Tag überlassen. Und daran hielt man sich. 385 wurde auf Drängen des Kaisers dann doch in Trier ein Ketzer getötet, woraufhin der Papst alle beteiligten Bischöfe exkommunizierte. Erst seit 1022 gab es Ketzertötungen und das war ein Skandal, zumal es direkt der Anordnung Jesu widersprach.
Eine Kritik an ihrem Buch heißt, sie würden Schuld der Kirche relativieren, indem sie auf andere verweisen und sagen, die haben es aber noch viel schlimmer getrieben...
Das ist Unsinn und warum sollte ich das? Ich bin gerade als Christ der Wahrheit besonders verpflichtet. Ich finde zum Beispiel Missbrauch von Jugendlichen durch katholische Priester viel schlimmer als durch andere Menschen und das steht auch so im Buch. Jedes Opfer der Inquisition zum Beispiel ist ein Skandal. Aber man muss eben auch wissen, dass nach Erforschung aller Archive inzwischen klar ist, dass die spanische Inquisition zwischen 1540 und 1700 exakt 826 Todesopfer zu verantworten hat. Das sind natürlich 826 Opfer zu viel, aber eben nicht Millionen, wie man noch überall lesen kann.
Warum ist das Buch aus Ihrer Sicht notwendig?
Jeder Christ muss das, was in dem Buch steht, wissen. Kreuzzüge, Hexenverbrennung, Inquisition, Galilei – immer wieder werden Christen ja danach gefragt. Und dann schämen sie sich sicherheitshalber schon einmal für ihre Geschichte, ohne sie zu kennen. Die heutige Forschung sagt, dass vieles von dem, was vor allem die Hitlers und die Honeckers den Menschen über das Christentum in die Köpfe gehämmert haben, falsch ist. Das sagt nicht der Vatikan, das sagen atheistische Forscher. Das Buch sollte aber auch jeder Atheist lesen, wenn er die geistigen Wurzeln unserer Gesellschaft verstehen will.
Inzwischen ist Ihr Buch ein halbes Jahr auf dem Markt. Welche Resonanz haben Sie erfahren?
Es gab sehr viel Zustimmung, aber auch Empörung. Die atheistische Giordano-Bruno-Stiftung Mittelrhein-Koblenz hat mir zum Beispiel 100 Kotz-Schalen aus Pappe geschickt. Das war ihnen dann selber ziemlich peinlich. Ich habe ihnen daraufhin eine wissenschaftliche Debatte angeboten, die werden wir nun in Heidelberg in diesen Tagen öffentlich führen. Bei der Kritik geht es nicht um rationale Argumente, sondern um Emotionen. Auch die Atheisten brauchen offenbar bestimmte Mythen. Wenn sie dann erfahren, wie zum Beispiel Giordano Bruno wirklich war, sind sie empört, so wie Christen, als sie hörten, es habe den heiligen Christophorus historisch gar nicht gegeben. Wahrscheinlich brauchen wir eine Entmythologisierung des Atheismus.
Manfred Lütz: Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums; Verlag Herder Freiburg/Br. 2018; ISBN 978-3-451-37915-4; 22 Euro. Das Buch gibt es auch als E-Book und als Hörbuch. |
Die Kirche in Deutschland ist ja in einer Krise. Soll Ihr Buch auch ein Beitrag sein, den Platz der Kirche in der Gesellschaft zu verteidigen?
Nein, es geht schlicht um Aufklärung. Die Krise des Christentums hat aus meiner Sicht vor allem zwei Ursachen: Erstens glauben die Leute nicht mehr an Gott – und die Kirche redet viel zu wenig darüber. Und zweitens ist den Christen ihre eigene Geschichte peinlich. Wenn aber das Christentum in 2000 Jahren nur Mist hervorgebracht hat, dann geht man doch lieber zum Amnesty International oder Greenpeace, wenn man sich engagieren will.
In Wirklichkeit aber haben die Christen die Toleranz erfunden. Im klassischen Latein hieß tolerantia Lasten tragen, Steine zum Beispiel. Und die Christen haben daraus gemacht, Menschen anderer Meinung ertragen. Das Mitleid haben die Christen erfunden. Die Heiden verachteten Behinderte, die Christen sagten dagegen, dass man in notleidenden Menschen Gott selber begegne. Krankenhäuser sind christliche Erfindungen. Die Internationalität haben die Christen erfunden, denn sie glaubten an einen Gott, der alle Völker gleichberechtigt erschaffen hat. Im frühen Mittelalter bauten die Christen in ganz Europa Xenodochien, Fremdenherbergen. Wer fremdenfeindlich ist, ist deswegen kein Christ.
Christen haben auch eine wichtige Rolle bei der Gleichberechtigung der Frauen gespielt. Zumindest in der katholischen Kirche haben Frauen heute dagegen eher wenig zu sagen ...
Dass die katholische Kirche heute so männerbeherrscht ist wie nie zuvor – auch das ist ein Skandal. Frauen müssen in der Kirche viel mehr Macht bekommen. Im 19. Jahrhundert waren Frauen – nämlich die Ordensgründerinnen – die bestimmenden Gestalten der katholischen Kirche. Die Bischöfe waren blass. Heute gibt es gewaltige kirchliche Strukturen und an der Spitze sitzen fast ausschließlich Männer. Statt immer nur übers Frauenpriestertum zu diskutieren, sollte man mal fordern, dass die Hälfte der Hauptabteilungsleiterposten in deutschen Generalvikariaten mit Frauen besetzt werden.
Ihr Fazit: Haben die Christen Grund, in Sack und Asche zu gehen? Oder können Sie sich selbstbewusst mit stolzer Brust präsentieren?
Natürlich haben wir Grund, in Sack und Asche zu gehen, weil wir Sünder sind. Und das tun wir auch – vor allem in der Fastenzeit. Aber die Geschichte des menschgewordenen Gottes ist auch eine Heilsgeschichte. Und deshalb finde ich: Jeder Christ muss dieses Buch lesen. Er muss es ja nicht kaufen, sondern kann es sich in der Pfarrbibliothek ausleihen.