Friedhöfe in Deutschland

Zwischen den Gräbern das pralle Leben

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Friedhöfe sind Orte der Trauer und Erinnerung. Sie können auch Oasen der lebendigen Vielfalt sein – wenn man sie nur lässt und gezielt nachhilft. Die Ökologin Sigrid Tinz zeigt, wie es geht, was wir tun können, welche Vielfalt wir damit unterstützen und wo es bereits gute Beispiele gibt.


Rund 30 000 Friedhöfe gibt es in Deutschland. Sie sind Orte der Trauer, der Erinnerung, der Begegnung. Und im Idealfall Überlebensorte für Tiere und Pflanzen.

Bei diesem Anblick würde einem Hob­bygärtner vermutlich das Herz in die Hose rutschen: Die Traubenkirsche ist ratzekahl gefressen, ein hauchdünnes weißes Netz überzieht die dünnen Äste. Ein Trauerspiel, denke ich. „Ach, wie schön“, sagt Sigrid Tinz. Nein, sie hat in der Mittagshitze dieses Sommertages nicht etwa zuviel Sonne abbekommen. Aber sie hat jede Menge Ahnung. „Das war die Gespinstmotte“, sagt sie und schiebt die Erläuterungen gleich hinterher: Mit dem Netz schützt sich die Raupe vor hungrigen Vögeln und Regen gleichermaßen, futtert in Seelenruhe die Blätter ab, verpuppt sich dann am Fuß des Stammes und Anfang Juli, also ziemlich genau jetzt, schlüpfen hübsche schwarz gepunktete Falter. „Den befallenen Pflanzen schadet es nicht, sie treiben danach neu aus.“

Lauheide – der schönste Friedhof im Land

Wir haben uns verabredet am Eingang des Waldfriedhofs Lauheide, aus mehreren Gründen: Sigrid Tinz ist Journalistin mit dem Spezialgebiet Ökologie und hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Thema „naturnahe Friedhofsgestaltung“ befasst. Nicht nur, weil Lauheide am Rand von Münster fast vor ihrer Haustür liegt, will sie mir das riesige Gelände zeigen. Auch dass die Anlage vor ein paar Jahren zum schönsten Friedhof Deutschlands gewählt wurde, spielt jetzt eine untergeordnete Rolle, denn schön ist ja durchaus interpretationsfähig. Viel wichtiger ist ihr, dass der Friedhof Lauheide quasi als Mus­terbeispiel dienen kann für einen Ort der Toten, der zugleich voller Leben ist.

Bestattet hat man hier schon lange vor unserer Zeit, daran erinnern alte Hünen- und Urnengräber. Später nutzten die Bauern das Gelände entlang der Ems als Hutewald und aus der Rinde der Eichen gewannen sie Lohe zum Gerben von Leder. Als vor gut 80 Jahren der Gartenarchitekt Carl Ludwig Schreiber mit der Anlage dieses Friedhofs beauftragt wurde, dienten ihm kurz zuvor eröffnete Waldfriedhöfe wie München, der Sennefriedhof bei Bielefeld oder Hamburg-Ohlsdorf als Vorbild. Geschickt integrierte er die vorhandenen Landschaftselemente – Heide, Baumgruppen, altes und neues Bett der Ems – in seine Planung. Wie zufällig verteilt wirken die mittlerweile 35 000 Gräber.
 


Möglich: Langsam vermodert ein Baumstumpf. Alles ist vergänglich und bis dahin ein begehrtes Versteck für Insekten.

Ein bisschen Nachlässigkeit statt Ordnungswahn

Gepflegt wird der Friedhof heute mit einer gewissen Nachlässigkeit, und das aus gutem Grund; denn wer sich mit dem Thema Natur befasst, kann jede Menge Gründe nennen, warum eine artenreiche Wiese, die nur einmal im Sommer gemäht wird, ökologisch viel sinnvoller ist als eine wöchentlich gestutzte Rasenfläche. Warum ein Feld von Brennnesseln eine wichtige Nahrungsquelle für Schmetterlinge ist. Warum Äste und Baumstümpfe als Unterschlupf für Hummeln, Käfer und Eidechsen liegen bleiben und sogar gezielt aufgestapelt werden.

Kurz und gut: der Naturschutzbund, der nicht nur Ratschläge gibt, sondern auch mit anpackt bei der Pflege, kann den Friedhof Lauheide als ein Refugium für Pflanzen und Tiere einstufen, darunter viele, die im Bestand gefährdet oder sogar vom Aussterben bedroht sind. Mehr als hundert Vogelarten bis hin zum selten gewordenen gelb-schwarzen Pirol oder dem Trauerschnäpper zwitschern, piepen und tschilpen in den frühen Morgenstunden um die Wette, tagsüber sonnen sich Salamander auf den Steinen, in der Abenddämmerung flattern Fledermäuse durch die Luft, hier wachsen Königsfarne und Wacholder, an anderen Stellen Sauergräser oder das Klappertöpfchen, längst eine botanische Rarität. Und sogar Liebhaber von wilden Orchideen kommen zum Zuge und finden Knabenkraut und Zweiblatt auf den Feuchtwiesen.

 


Möglich: eine Distel wachsen lassen als Zeichen für den ungebändigten Überlebenswillen der Natur.

„Die Einsicht wächst bei allen Beteiligten

Also, Frau Tinz, Lauheide ist ja wirklich eine bemerkenswerte Oase. Aber wie sieht es aus mit den anderen geschätzt 30 000 Friedhöfen in Deutschland? Sind das ebenfalls Pluspunkte für die Natur? „Das ist sehr unterschiedlich“, weiß die Ökologin aus eigener Anschauung. Wann immer sich Gelegenheit bietet, sucht sie unterwegs die letzten Ruhestätten auf. Und sie findet die gesamte Bandbreite von liebe- und vor allem sinnvoll gestalteten Refugien mit beispielhaften Ansätzen (siehe Beispiele in der linken Randspalte) bis hin zu den „Gräbern des Grauens“ (Kiesfläche, Plastikgesteck und Giftspritze gegen keimendes Unkraut).

Sigrid Tinz will sich auch keinen Illusionen hingeben: Wenn der Träger eines Friedhofs – in aller Regel Kommune oder Kirchengemeinde – nicht mitspielt, ist ein naturnah bepflanztes Einzelgrab nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein. „Vielfalt stellt sich nur bei entsprechend großer Fläche ein“, sagt sie. Darum kann ein insgesamt ökologisch gestalteter Friedhof durchaus eine nach deutschen Ordnungsvorstellungen gestaltete Grabreihe mit Standardbepflanzung (Eisbegonie, Eisbegonie, Eisbegonie) auffangen. Zwei Gründe, warum die Ökologin eher optimistisch auf die Zukunft der Friedhöfe blickt: Zum einen entdecken vor allem Städte diese Anlagen als grüne Oasen. „Weil durch die enorm wachsende Zahl an Urnenbestattungen immer weniger klassische Gräber gebraucht werden, steigt die Fläche, die im Sinne einer Vielfalt gestaltet werden kann.“ Und auch bei Friedhofsgärtnern beobachtet sie ein Umdenken: „Immer öfter entdecke ich bei meinen Rundgängen ökologisch gestaltete Mus­tergräber, die nicht unbedingt mehr Pflegeaufwand bedeuten.“
 


Sigrid Tinz, hier auf dem Waldfriedhof Lauheide, ist von Friedhöfen fasziniert.

Wie auch immer – die Einsicht wächst bei allen Beteiligten, sagt Sigrid Tinz. Na gut, nicht bei allen. Aber bei immer mehr. Und wie immer bestimmt die Nachfrage das Angebot, setzt allerdings auch vernünftige Informationen voraus. „Ich kann darauf achten, dass meine Pflanzen aus der Gärtnerei nicht unter Einsatz von Gift gezüchtet worden sind. Ich kann gezielt Stauden kaufen, die ungefüllte Blüten haben, weil nur die Insekten Nahrung bieten. Ich kann statt der Geranien ein paar Lavendelbüsche setzen, das sieht genau so schön aus und ist viel sinnvoller. Ich kann das Efeu ruhig wachsen lassen, um den Vögeln über den Winter zu helfen. Ich kann Unkraut jäten statt es wegzuspritzen. Ich kann viel tun.“ Und es muss nicht unbedingt der blank polierte Marmorstein sein, denn niemals wird er von Moos und Flechten bewachsen sein, dem wichtigen Lebensraum für den Nachtfalter mit dem hübschen Namen Flechtenbärchen.

Allerdings – und auch darauf legt Sigrid Tinz Wert – darf eine Oase wie der Friedhof Lauheide über eins nicht hinwegtäuschen: Selbst wenn es durch viel Überzeugungsarbeit und guten Willen gelänge, jeden Quadratmeter der deutschen Friedhöfe nicht nur als Ort der Erinnerung an die Verstorbenen, sondern auch als Rückzugsmöglichkeit für die Natur zu gestalten: Tag für Tag werden in Deutschland 52 Hektar Land (mehr als 70 Fußballfelder) für Siedlungs- und Straßenbau versiegelt. Das heißt: In gerade eineinhalb Jahren wäre die Gesamtfläche aller Friedhöfe verbraucht.

Stefan Branahl