Bücher über das Beten
Ab in den Brunnen
Wer betet, schwingt sich in die Höhe – könnte man meinen. Der Priester und Religionspädagoge Hubertus Halbfas meint dagegen: Wer hinaufsteigen will zu Gott, muss erst mal hinab in die eigene Tiefe.
Von Susanne Haverkamp
Als ich kürzlich in einer Buchhandlung vor dem Regal mit der frommen Literatur stand, traute ich meinen Augen kaum: „Hubertus Halbfas, Der Sprung in den Brunnen“. Mein ziemlich zerfleddertes Exemplar des Buches mit dem Untertitel „Eine Gebetsschule“ ist aus dem Jahr 1986 – und schon damals war es die fünfte Auflage. Dass es das noch gibt!, dachte ich zuerst. Und dann: Gut, dass es das noch gibt!
Im Jahr 1986 hatte ich gerade das erste Jahr meines Theologiestudiums hinter mir und war abgesehen von wissenschaftlichen auch auf der Suche nach geistlichen Impulsen. Der junge Kaplan meiner Heimatgemeinde, gerade geweiht und Halbfas-Fan, hatte mir das Buch empfohlen. Ich weiß noch, dass ich es sofort und dann immer mal wieder verschlungen habe. Verschlungen: in gewisser Weise ein unpassendes Bild. Denn auf den kleinen Geschichten und Anregungen muss man intensiv herumkauen und sie gründlich verdauen.
Den Rahmen des Buches bildet ein Gespräch zwischen einem Schüler und einem Lehrer. Der Dialog beginnt so:
Schüler: Zeige mir, wie ich beten kann.
Lehrer: Kann ich es dir zeigen? Ich kann es nicht!
Schüler: Bist du denn nicht ein Lehrer der Religion?
Lehrer: Eben deswegen! Beten lernt niemand durch Wissen und Können, sondern durch Erfahrung und Leben. Was immer ich weiß, kann ich dir nicht ersparen, dich selber zu suchen. Selbst musst du in den Brunnen springen, die Tiefe wagen, den inneren Raum und die innere Zeit entdecken. Hör zu!
Und darauf folgt die erste von vielen Geschichten. Manchmal kommen sie wie ein altes Märchen daher, manchmal wie eine Übung, manchmal wie eine Lebensweisheit. Aber immer fordern sie heraus, sie nicht nur zu lesen, sondern zu bedenken, zu meditieren. Anregungen dafür und Verständnishilfen gibt immer wieder der Dialog zwischen Schüler und Lehrer. Die Kernthese des Buches ist: Wenn du Gott finden willst, musst du dich erst mal selber finden. Du musst tief in dich selbst blicken, dorthin, wo es vielleicht wehtut.
Schüler: Dann ist der Brunnen in mir?
Lehrer: Deine eigene Tiefe!
Schüler: Aber warum dann Angst haben? Was in mir ist, muss ich doch nicht fürchten!
Lehrer: Nichts ist dem Menschen unbekannter und erschreckender als die eigene Seele. Die meisten Menschen haben Todesängste, in das Brunnenloch zu steigen und den Abstieg zum unbekannten Seelengrund zu wagen. Sie leben nur außen, von allem gefesselt, was zur Schau gestellt wird ...
Doch das Buch bleibt natürlich nicht bei der Selbstfindung stehen. Nach dem Kapitel „Ich“ folgt der zweite Teil mit der Überschrift „Gott“. Aber auch hier geht es mehr um Fragen als um Antworten, mehr um die eigene Suche als um theologische Wahrheiten.
Lehrer: Wir „wissen“ Gott am ehesten in unseren Fragen. Alles, was wir kennen, ist nicht Gott.
Schüler: Was bleibt dann noch? Nichts! Ist Gott Nichts?
Lehrer: Keineswegs.
Schüler: Aber wenn Gott nicht das Nichts ist, dann ist er doch irgend Etwas.
Lehrer: Eher ist Gott Alles als irgend Etwas.
Und wie ist Gott? Darüber kann man anhand der Geschichten über Namen Gottes nachdenken. Welches wäre mein Lieblingsname für ihn? Und wo würde ich ihn suchen, wenn ich ihn finden will? Und wie sehr will ich ihn überhaupt finden?
Der Lehrer sagte: „Verlangst du nach Gott, so wird Gott zu dir kommen.“ Aber der Schüler verstand den Lehrer nicht ganz. Eines Tages badeten beide im Fluss, und der Lehrer sagte: „Tauche unter!“ Der Schüler tat es. Sofort war der Lehrer über ihm und hielt ihn unter Wasser, bis der Schüler erschöpft war. Dann ließ er ihn frei. „Was empfandst du da unten?“, fragte er ihn. „Das Verlangen nach einem Atemzug.“ „Ersehnst du Gott ebenso stark?“ „Nein.“ „Erst wenn du das tust, wirst du Gott finden.“
Der Sprung in den Brunnen ist ein Buch für das ganze Leben, auch fast 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen. Bei mir liegt es noch heute im Bücherregal neben meinem Bett und ab und an schaue ich rein und denke über eine Geschichte oder über einen Dialog nach. Kann sein, dass das schon Gebet ist.