Erinnerungen an die große Hamburger Sturmflut von 1962

Als die Deiche brachen

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Vor 60 Jahren fielen 315 Menschen in den Stadtteilen südlich der Elbe einer großen Sturmflut zum Opfer. Auch kirchliche Einrichtungen wie die Klinik Groß-Sand wurden in Mitleidenschaft gezogen. Augenzeugen erinnern sich.

Ordens- und Krankenschwestern befreien  den Keller der Klinik Groß-Sand von Schlamm
Ordens- und Krankenschwestern befreien den Keller der Klinik Groß-Sand von Schlamm. Foto: Groß-Sand

„Freunde, wenn das so weiterbläst, dann dürften wir Montag wohl nicht zur Arbeit kommen.“ So entfuhr es Peter Meinke, als er am Freitag, dem 16. Februar 1962 kurz nach 16 Uhr die Barkasse am Petroleumhafen in Waltershof bestieg. Sie sollte ihn und seine Kollegen über den Parkhafen zum gegenüberliegenden Atha­baskahöft bringen. „Das Wasser stand so hoch, dass der Ponton mit der Anlegestelle schon höher lag als seine Verankerung an Land“, erinnert sich der Diakon der Pfarrei Sankt Maximilian Kolbe im Süden Hamburgs. Meinke, der damals als 19-Jähriger eine Ausbildung zum Chemiefacharbeiter absolvierte, sollte einerseits recht behalten, denn ihre übliche Tätigkeit mussten er und seine Kollegen am Montag tatsächlich nicht wieder aufnehmen. Andererseits aber gab es nicht erst am Montag viel zu tun. Genauer gesagt: viel aufzuräumen. Ausgelöst durch das Sturmtief „Vincinette“, die „Siegreiche“, das mit Böen von bis zu 130 Kilometern pro Stunde über Hamburg hinwegfegte. 

Das schwante Meinke dann kurz nach Mitternacht, als er zu Hause am Volkswohlweg, der rund zehn Kilometer südlich im heutigen Stadtteil Eißendorf liegt, im Radio aus den Nachrichten erfahren hatte, dass es zu ers­ten Deichdurchbrüchen gekommen war. Selbst gefährdet sah er sich freilich dadurch nicht. Denn das Haus, in dem er und seine Eltern wohnten, steht 40 Meter über Normalnull. Das benachbarte Wilhelmsburg aber liegt deutlich niedriger. „Ohne Deiche und Schutzeinrichtungen würden weite Teile der Insel zweimal täglich vom Wasser der Elbe überspült, bei jedem Tidehochwasser von neuem“, teilt der Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer auf seiner Internetseite heute mit. Meinke: „Wilhelmsburg war vollgelaufen wie eine Badewanne.“

Um 1 Uhr hatte dort bereits die Stromversorgung ausgesetzt. Um 2 Uhr brach der Deich am Wilhelmsburger Spreehafen. Und das Wasser stieg weiter. Kurz nach 3 Uhr erreichte es seinen Höchststand von 5,70 Metern über Normalnull. 

Ereignisse brannten sich ins Gedächtnis ein

„Es war keiner davon ausgegangen, dass die Deiche brechen“, erinnert sich Rosemarie Schubert, Personalschwester am katholischen Krankenhaus Groß-Sand in Wilhelmsburg. „Ich war damals erst fünf Jahre alt, aber die Ereignisse haben sich trotzdem ins Gedächtnis eingebrannt“, sagt sie. Die Familie wohnte zu der Zeit am Katenweg im Süden Wilhelmsburgs. Es habe tagsüber am 16. Februar Warnungen im Radio gegeben. „Man sollte vorsichtshalber Wasser abschöpfen für den Fall, dass die Leitungen unterbrochen werden.“

Damit nicht genug. „Wir haben vollkommen angezogen in den Betten gelegen, um jederzeit sofort raus zu können“, berichtet Schubert weiter. In der Nähe auf dem heutigen Gelände des Friedhofs Finkenried hätten die dort weidenden Schafe „einen Höllenlärm gemacht“. Man habe sie daraufhin in die Keller der Häuser in Sicherheit gebracht. Ihre Brüder hätten an der Anhöhe, auf der die Siedlung liege, Stöcke in den Boden gesteckt, um so abschätzen zu können, ob das Wasser, das inzwischen durchgebrochen war und die Weide geflutet hatte, noch steige. Schubert: „Es hat am Ende nicht viel gefehlt.“ Aber die nördlich gelegene Kornweide und die südlich gelegene Straße König-Georg-Deich, die durch den Katenweg verbunden sind, standen unter Wasser.

Schlimmer traf es Schuberts heutige Arbeitsstätte. Das geht aus einem Bericht Sieglinde Seuferts hervor, seinerzeit Krankenschwester in Groß-Sand, das rund vier Kilometer nördlich des Katenwegs an der Vering­straße liegt. Ihre Erinnerungen sind im Internet unter www.hamburg.de/seufert/ nachzulesen. 

Demnach blickte sie gegen 4.30 Uhr aus dem Fenster ihres Zimmers und traute ihren Augen nicht. Wortwörtlich. Die Straße habe silbrig geglänzt. Zunächst dachte sie, die Straße sei vereist. Doch das Eis bewegte sich. Dann begriff sie, dass es Wasser ist, was sich da im Licht einer Laterne spiegelte. Bald darauf seien die Schwestern, so Seufert weiter, von Patienten belagert worden, die nach Hause wollten. Im ganzen Krankenhaus habe „totale Unruhe“ geherrscht. „Die Kellerräume sind bis zur Decke überflutet, sämtliche unteren Einrichtungen sind nicht mehr zugänglich: die Lebensmittelvorräte, die Waschküche mit den teuren Maschinen, die Heizung, Handwerkerräume, Röntgenabteilung, Labor, Apotheke, Hauswirtschaftsräume, Fahrstühle, alles ist zerstört.“

Die benachbarte St. Bonifatius­kirche blieb jedoch trocken, ebenso der Platz vor dem Gotteshaus, auf dem bald die Bundeswehr ihre Fahrzeuge parkte, mit denen sie Patienten in andere Krankenhäuser verlegte, wie Seufert weiter berichtete. Andere Soldaten begannen, unterstützt von den Ordens- und Krankenschwes­tern, die Kellerräume leerzupumpen und den Schlamm herauszuschaufeln.

Bundesweit große Hilfsbereitschaft

Trotzdem kam das Krankenhaus Groß-Sand vergleichsweise glimpflich davon. Die Gemeinde St. Bonifatius hatte hingegen 15 Todesopfer zu beklagen. Insgesamt starben in Wilhelmsburg über 200 Menschen und mehr als 100 in anderen Stadtteilen südlich der Elbe. „Als ich ein paar Tage später auf den noch erhaltenen Deichen mit dem Fahrrad nach Waltershof fuhr, stand von vielen der Häuser in Moorburg nur noch die Hälfte“, erinnert sich Peter Meinke.

Schwer getroffen wurde damals auch die St. Petrus-Gemeinde am Norderkirchenweg in Finkenwerder. Dort wurden Kirche und Pfarrhaus geflutet. „Die Sakristei war ganz zerstört“, berichtete vor zehn Jahren anlässlich des 50. Jahrestages der Sturmflut Schwester Teresa John, seinerzeit Priorin in der Karmelzelle, der Neuen KirchenZeitung.

Zudem verendeten 2 500 Schweine und 1 500 Rinder konnten nicht vor den Fluten in Sicherheit gebracht werden wie die Schafe am Katenweg. Die damals 16 Jahre junge Renate Dornecker von der Gemeinde St. Bonifatius erinnerte sich vor zehn Jahren an viele tote Tiere, die im Wasser trieben. „Wir hatten damals doch alle noch Tiere im Garten, Kaninchen und Hühner“, gab sie zu Protokoll. Ihre Familie lebte seinerzeit an der Thielenstraße. Den Fluten entkam sie, indem sie zu Nachbarn in den oberen Stockwerken des Hauses floh. 

Und Elke Matuszczak aus der gleichen Gemeinde – sie war 25 Jahre alt und wohnte am Reiherstiegdeich, als die Flut kam – erinnerte sich: „Als es hell wurde, sahen wir von den Gartenlauben der Kleingartensiedlung hinter unserem Haus nur noch die Dächer.“ In ihrer Verzweiflung seien Menschen auf Bäume geklettert. 

Bundesweit setzte danach eine ähnliche Hilfsbereitschaft ein wie im vergangenen Sommer nach der Flutkatastrophe im Ahrtal. Rund 40 Millionen D-Mark wurden gespendet, um die größte Not zu lindern – legt man die Kaufkraft zugrunde, entspricht dies derzeit rund 90 Millionen Euro. Bei den Meinkes übernachtete für ein paar Tage ein Mann im Wohnzimmer, der sein Behelfsheim in Wilhelmsburg verloren hatte. Und Rosemarie Schubert wurde schon kurz nach der Flut aufgrund der Seuchengefahr für rund drei Wochen nach Bad Kreuznach in Rheinland-Pfalz verschickt, wo sie auch komplett neu eingekleidet wurde.

Text: Matthias Schatz