Anteilnahme erwecken

Das Szenario einer Entführung von Schülerinnen durch islamistische Terroristen beschreibt die englische Autorin Corinna Turner im Buch „Eines Tages“. Die deutsche Übersetzung ist im Fuldaer Verlag Petra Kehl erschienen.
Grundlage des Buchs von Corinna Turner ist die Entführung von 276 nigerianischen Schülerinnen in Chibok durch die Terrorgruppe Boko Haram. Hat dies Ihr Interesse für den Roman geweckt?

sich Menschen, die gewaltsam ihrer Freiheit
beraubt werden. Foto: Adobe Stock
Kehl: Schon vor der Entführung der Chibok-Mädchen gab es Entführungen, Verschleppungen und Versklavung von christlichen und jesidischen Mädchen und Frauen im Nahen Osten durch den Islamischen Staat. Vor vielen Jahren habe ich mich mit dem Thema Frauen als Kriegsbeute beschäftigt und war daher für diese Dinge sensibilisiert. Besonders erschütternd fand ich, dass es im Westen Europas kaum jemanden interessierte, obwohl doch sonst immer so viel Aufhebens um Frauenthemen gemacht wird. Wegen des Anschlags auf Charlie Hebdo sind die Leute massenhaft auf die Straße gegangen – aber wegen dieser unglücklichen Mädchen und Frauen?
War Ihnen die Autorin bekannt?
Ich hatte von Corinna Turner schon eine Serie von Jugendbüchern gelesen. Als ich dann von ihrem Buch über die entführten Mädchen erfuhr, war ich sofort entschlossen, es auf Deutsch herauszugeben. Die Chibok-Mädchen stehen nur stellvertretend für die vielen Opfer der Islamisten, deren Namen niemand kennt.
Das Buch ist ein Roman. Wie authentisch ist er?
Die Autorin hat unzählige Augenzeugenberichte ausgewertet, teils von inzwischen entflohenen oder befreiten Chibok-Schülerinnen, teils von anderen Opfern der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram und von Angehörigen der Sicherheitskräfte. Als Grundlage für ihr Buch hat sie jedoch nur solche herangezogen, die aus verlässlichen Quellen stammten, also von internationalen Organisationen und Nachrichtendiensten. Dies gilt für die äußere Handlung.
Sie hat aber die Handlung von Nigeria nach England verlegt ...
Stimmt. Ein paar fiktive Randfiguren sind eingefügt. Die Gespräche der Mädchen untereinander, sozusagen die innere Handlung, sind erfunden. Was die entführten Mädchen wirklich denken und fühlen, kann man nur erahnen.
Wovon handelt der Roman?
Aus einer englischen Mädchenschule mit Internat werden 276 Schülerinnen verschleppt von uniformierten Männern, die sich zunächst als reguläre Soldaten ausgeben. Dann müssen die Mädchen erkennen, dass sie in die Hände von Terroristen gefallen sind. Sie werden auf Lastwagen wegtransportiert. Etwa 50 Mädchen unter einer willens- und glaubensstarken Anführerin gelingt unterwegs die Flucht.
Was geschieht mit den anderen?
Der Rest wird zunächst auf ein Boot gebracht. Dort ermorden die Islamisten eine japanische Austauschschülerin, weil sie an ihren Amuletten festhält. Auf offener See werden die Mädchen auf ein Schiff gebracht, das mit unbekanntem Ziel seine Reise fortsetzt. Unter Deck in einen Raum eingesperrt, müssen sie bald darauf arabische Verse aufsagen. Was diese bedeuten, wissen sie nicht. Ein moslemisches Mädchen verhilft den beiden jüngsten Schülerinnen zur Flucht in einer Rettungsinsel. Ein anderes Mädchen wird als „Sklavin“ vergewaltigt, weil sie ihr Haar nicht korrekt bedeckt hat. Allen Mädchen wird vom Anführer der Entführer verkündet, sie würden „ehrenvoll“ verheiratet werden.
Was ist damit gemeint?
Kurz darauf geht ein anderes Schiff längsseits, dessen Besatzung an Bord kommt und sich „Bräute“ auswählt. Jede Braut muss das islamische Glaubensbekenntnis aufsagen. Die einzige Katholikin unter den Mädchen ist auch die einzige, die sich weigert und das Martyrium erleidet.
Parallel wird erzählt, wie junge Soldaten eines Suchtrupps zwei zurückgelassene Mädchen finden; wie eine Mutter, die selbst vom Islam zum katholischen Glauben konvertierte und ihren Mann verließ, mit ihren beiden Zwillingssöhnen für die Mädchen betet und ihnen erklärt, was „Martyrium“ ist.
Wäre es nicht besser gewesen, ein Sachbuch über das Thema zu schreiben?

Wenn es nur darum gegangen wäre, über die Ereignisse und ihre Hintergründe zu informieren, dann mit Sicherheit ja. Doch der Autorin – und mir als Verlegerin – geht es darum, wirkliche Anteilnahme für diese und alle Mädchen, die in den verschiedenen, vor allem islamischen Staaten, entführt wurden und werden, zu erwecken. Das erreicht man nicht mit schlichten Sachinformationen. Hierzu muss man den Leser dazu einladen, sich mit den Opfern zu identifizieren, mit ihnen mitzuleiden. Ziel ist ja doch, dass der Leser so ergriffen ist, dass er bereit ist, sich für die verschleppten Mädchen zu engagieren. Dazu dient auch die Verlegung der Handlung nach Europa.
Glauben Sie, dass ein solches Buch etwas erreichen kann?
Das vordringlichste Ziel der Autorin war, zu verhindern, dass die entführten Mädchen einfach vergessen werden. Und wenn man als Christ davon spricht, dass sie nicht vergessen werden sollen, dann meint man damit, dass für sie gebetet wird – für sie und die vielen anderen Mädchen und Frauen. Damit allein wäre schon etwas erreicht. Daneben geht der Erlös sowohl der englischen als auch der deutschen Ausgabe über das Hilfswerk „Kirche in Not“ an Hilfsprojekte in Nigeria. Durch den Kauf des Buches fördert man also zugleich konkrete Hilfsmaßnahmen. Natürlich wäre es schön, wenn sich der eine oder andere – soweit er oder sie die Möglichkeit hat – noch weiter einsetzt: durch Organisieren von Gebetswachen, Infoständen, Vorträgen.
Interview: Hans-Joachim Stoehr
Am Sonntag, 15. April, stellt Dr. Petra Kehl um 15 Uhr das Buch in der Pfarrbücherei von St. Lukas (Fulda-Aschenberg) vor. In einem Vortrag geht die Verlegerin auf die Opfer der islamistischen Organisation Boko Haram in Nigeria ein.
Zur Sache: Die vergessenen Schülerinnen
Im April 2014 wurde die Weltöffentlichkeit aufgeschreckt. In der Nacht vom 14. auf den 15. entführten Mitglieder der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram 276 überwiegend christliche Schülerinnen aus einer Schule in Chibok, Nigeria. Welches Schicksal den Mädchen bevorstand, wenn es nicht gelang, sie rasch zu befreien, war klar: Zwangsislamisierung und Zwangsverheiratung.
Von den aus Chibok entführten Schülerinnen konnten 53 unmittelbar nach der Entführung entkommen. 2016 sind 21 Mädchen durch Verhandlungen freigekommen. Im Mai 2017 konnten dann nochmals 82 Mädchen durch lange Verhandlungen aus den Händen ihrer Entführer befreit werden. In beiden Fällen hatte sich neben dem Internationalen Roten Kreuz vor allem die Schweizer Regierung engagiert. Derzeit sind noch etwa über 100 Mädchen vermisst.
Nach anfänglicher Empörung und Mitgefühl ist das Interesse der Öffentlichkeit wieder eingeschlafen. Von der neuerlichen Entführung von 110 Schülerinnen in Nigeria Mitte Februar 2018 wurde kaum Notiz genommen. (pm)