Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
Aufgeben ist keine Option
Foto: Astrid Fleute
Nach den Krokussen kommt der Krieg. Tetiana Kisker blättert durch die Bilder auf ihrem Smartphone. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 haben sich ihre Fotomotive verändert. Knipste sie am 23. Februar noch glücklich die ersten zarten Frühlingsblumen aus ihrem geliebten Garten, folgen am Tag danach Bilder von Landkarten mit Bombeneinschlägen, Kriegsnachrichten, zerstörten Häusern, dem Brandenburger Tor in Gelb-Blau, einem Gebet.
Seit neun Jahren lebt Tetiana Kisker in Deutschland, ist in Bissendorf bei Osnabrück glücklich verheiratet. Obwohl die 48-Jährige hier in Sicherheit ist, leidet sie mit den Menschen in der Ukraine, ihrem Heimatland. „Ich war so verzweifelt, ich konnte nicht schlafen, nicht essen. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens“, erinnert sie sich an die ersten Tage nach Ausbruch des Krieges. Nacht für Nacht wachte sie zwischen 3 und 4 Uhr auf, recherchierte, ob die Mutter, die Oma, die Verwandten und Freunde noch leben, welche Städte in dieser Nacht bombardiert wurden. Um dem Krieg nicht ohnmächtig und verzweifelt zusehen zu müssen, ging sie sofort zu Demonstrationen und Friedensgebeten, erlebt dort viel Solidarität und Hilfe. Sie sagt: „Hier habe ich zum ersten Mal verstanden, dass ich nicht allein bin.“
Mittlerweile tobt der Krieg in der Ukraine seit zwei Jahren. Ebenso lange befindet sich auch Tetiana Kiskers Leben im Ausnahmezustand. Die zarte Frau erzählt: „Im Alltag bin ich ein Angsthase. Aber ich weiß, dass ich in extremen Situationen sehr mutig sein kann.“ Unermüdlich kümmert sie sich um geflüchtete Menschen in ihrer Umgebung, engagiert sich mit vielen anderen in der ukrainischen Gemeinde in Osnabrück, betreut dort kleine Kinder, gestaltet Sing- und Bastelstunden, bereitet Feste mit vor, übersetzt, erteilt Deutschunterricht, organisiert Hilfstransporte, sammelt Spenden und hält so die Hilfe aufrecht. Auf ihrem Handy dokumentiert sie, was sie erlebt. Jedes Bild hat eine Geschichte, die sie erzählt, manchmal auch wehmütig.
Seit fast zwei Jahren ist Tetiana Kisker als Lehrerin an der Ursulaschule in Osnabrück tätig und dort zuständig für die ukrainischen Schülerinnen und Schüler. Sie hat Lehramt in der Ukraine studiert, erteilt Deutschunterricht, hilft bei Verständigungsschwierigkeiten, gibt Nachhilfe, tröstet, freut sich über Fortschritte, ist eine feste Bezugsperson für Schüler und Eltern. Sie kennt jedes Kind, jede Familie. Ihre Stunden beginnen stets mit der Frage: „Wie geht es dir?“ oder „Wie war dein Wochenende?“ Die Ukrainerin erzählt: „Wenn ich mich um die Kinder kümmern kann, dann wird meine Seele ruhig. Ich habe einen Bereich, wo ich etwas schaffen kann.“
In der Schule nehmen die ukrainischen Kinder mittlerweile am normalen Regelunterricht teil. Dass sie dort zurechtkommen, haben sie auch Tetiana Kisker zu verdanken. Sie müssen vieles nachholen, darüber hinaus nehmen fast alle nachmittags online am Unterricht der ukrainischen Schule teil. Besonders das erste Jahr sei für die Kinder sehr schwer gewesen, berichtet sie. „Alle wollten zurück, hatten keine große Lust, Deutsch zu lernen.“ Sie vergleicht die Situation mit einem Bahnhof: „Man sitzt auf dem gepackten Koffer und wartet auf den Frieden.“ Drei der Jugendlichen seien bereits wieder zurückgekehrt in die Heimat. „Sie haben hier sehr gelitten, wussten nicht, was sie machen sollten. Natürlich ist es hier ruhiger und sicherer, es fallen keine Bomben. Aber das Leben geht an den Kindern vorbei.“
In extremen Situationen kann ich sehr mutig sein.
Pausen gönnt sich Tetiana Kisker nur wenige. Nachdenklich sagt sie: „Trotzdem ich so viel mache, habe ich immer das Gefühl, ich mache zu wenig. Das geht vielen so.“ Aufgeben ist für sie keine Option. Unermüdlich versucht sie, zu helfen und die Ukraine nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Für den Unterricht bereitet sie gerade eine Power-Point-Präsentation über ihren Neffen Matvij vor, um zu zeigen, wie die Kinder in der Ukraine derzeit leben. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Spanien ist die Familie nach Kiew zurückgekehrt. Der 14-Jährige ist fußballbegeistert, in jeder freien Minute auf dem Sportplatz. „Die Menschen versuchen, so zu leben wie früher. Aber die Realität ist jeden Tag da.“ Planen können sie nichts: „Ganz viele leben jeden Tag so, als wäre es ihr letzter Tag. Viele nehmen Beruhigungsmittel.“
Ihr Heimatland bezeichnet Tetiana Kisker heute wie einen „Schmerz“. Sie betont: „Dort bin ich geboren, dort sind meine Wurzeln und meine Vorfahren. Es wird immer in meinem Herzen sein. Menschen, die ihr Heimatland vergessen, sind unglücklich.“ Ihre Verwandtschaft lebt nach wie vor im Kriegsgebiet. Mit ihrer Mutter telefoniert sie täglich, ihre Schwägerin hatte im Alter von 40 Jahren einen Schlaganfall. Sie erklärt: „Ältere Menschen verpflanzt man nicht so einfach, meine Mutter möchte nicht weg. Die jüngeren Frauen gehen nicht, weil die Männer nicht ausreisen dürfen.“ Sie hilft aus der Ferne, so gut es geht.
„Ich darf nicht müde werden.“ Das ist das Credo, das Tetiana Kisker vorantreibt. „Erst wenn der Sieg kommt, werde ich mich erholen“, sagt sie. Nach zwei Jahren Krieg gebe es jedoch viele Menschen, die „müde sind, enttäuscht sind, aufgeben“. Für sie ist das keine Option. Auf keinen Fall möchte sie, dass ihr Heimatland wieder zurückkehrt in alte Sowjetzeiten mit Willkür, Ungerechtigkeit und Diktatur. „Wir wollen unser Land, unsere Sprache, unsere Unabhängigkeit behalten“, sagt sie kämpferisch. Und sie ist dankbar für alle Menschen, die sich immer noch dafür einsetzen und engagieren.
Helfen, das ist auch Therapie. Das erlebt sie bei vielen ukrainischen Müttern. Sie erzählt: „Eine Mama unterrichtet Musik in der ukrainischen Gemeinde. Das hat sie vor einer Depression gerettet. Eine andere organisiert Vorschulkurse – eine Aktivität, die Gutes bringt und ablenkt.“ Andere seien mit Deutschkursen beschäftigt. Was alle eint: Sie vermissen ihre Heimat. Kisker erklärt: „Wenn man passiv bleibt, kommt die Depression, die Verzweiflung, die Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit. Wer aktiv ist, macht etwas Gutes – nicht nur für sich.“
Mittlerweile schaut sie nicht mehr jeden Tag nach den neuesten Nachrichten vom Krieg – auch, um ihre eigene Gesundheit zu schützen. Aber eines ist ihr völlig klar: „Wenn etwas Schlimmes in der Verwandtschaft passiert, fahre ich sofort hin.“ So machten es alle Ukrainer, die geflüchtet seien. Die Zukunft macht ihr große Sorgen. „Ich habe einen Artikel gelesen, wie viele Soldaten nach dem Vietnamkrieg Selbstmord begangen haben. Nach dem Krieg sind viel mehr Menschen gestorben als während des Krieges.“ Die Hoffnung gibt sie dennoch nicht auf. „Der Glaube an das Gute ist bei mir sehr stark ausgeprägt“, erzählt sie.
Kraft tankt die naturverbundene Frau in ihrem Garten. Wenn sie pflanzt, auf ihre Blumen schaut, kann sie ausruhen. Frieden, das ist ihr einziger Wunsch. Sie sagt: „Jeder Ukrainer überall auf der Welt wünscht sich Frieden und Freiheit.“ Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, wird sie weiter bei Schülern, Familien, Kindern „Gutes, Schönes, Nützliches“ in die Herzen pflanzen.