„Das Johannes-Evangelium ist Weltliteratur“
Ludger Schenke kennt sich aus in den Evangelien. Er war Professor für Neues Testament an der Universität Mainz. Besonders das Johannes-Evangelium hat ihn immer fasziniert. Jetzt hat er ein Buch mit „pädagogischem Potential“ geschrieben.
Wen interessiert ein Buch über das Johannes-Evangelium?
Viele Kirchenbesucher hören an den Sonntagen im Gottesdienst die Texte des Johannes-Evangeliums (JohEv). Vielleicht wünschen sie sich, dass diese Texte besser erklärt werden als das gewöhnlich der Fall ist. Viele Pfarrer und Gemeindetheologen würden, mit guter Hilfestellung, auch gerne darüber predigen. Die Kommentare zum Evangelium aber sind umfangreich und kompliziert. Andere wünschen sich vielleicht einen gemeinsamen Bibelkreis zum JohEv, wenn sie sich leichter vorbereiten könnten. Für all diese Fälle habe ich das Buch geschrieben. Ich denke, dass es pädagogisches Potential hat.
„Das Johannes-Evangelium ist Weltliteratur“. Was heißt das?
Wir sind es nicht gewohnt, ein Buch des Neuen Testaments als Weltliteratur zu bezeichnen. Ohne Zweifel ist das JohEv aber Literatur, und wir können fragen, welches literarische Werk wohl mehr in der Welt bewirkt hat als das JohEv? Wir dürfen es in eine Reihe stellen mit der Ilias, mit „König Ödipus“ und Antigone, mit Hamlet, also mit Weltliteratur. Aber das bedeutet zugleich, dass wir es auch als Literatur lesen müssen. Es ist keine Reportage oder Dokumentation oder Biographie, sondern ein Werk, das ein Autor geschrieben hat, um unser Denken und unsere Vorstellung von Gott und von der Welt zu verändern.
Sie schreiben im Buch, Sie hätten das Evangelium zu Beginn Ihrer wissenschaftlichen Karriere anders gelesen. Nämlich wie?
Als Jugendlicher habe ich das JohEv so gelesen, wie ich es gerade gefordert habe: als Literatur. Mich haben die Reden des johanneischen Jesus gefangen genommen. Natürlich war ich dabei naiv. Als ich dann Wissenschaftler wurde, ist mir diese Naivität gründlich ausgetrieben worden. Die exegetische Diskussion ließ damals am JohEv in der Form, in der wir es jetzt lesen können, kein gutes Haar. Es galt als das Werk eines Stümpers, als sinnloses verdorbenes Durcheinander, hinter dem allerdings ein geniales Evangelium steckte. Dieses sollte von den Wissenschaftlern wieder hergestellt werden, indem die Arbeit des hilflosen Redaktors entfernt wurde. Der große Kommentar zum Evangelium von Rudolf Bultmann beherrschte die Szene. Schon vor ihm, aber vor allem in seinem Gefolge entstanden wissenschaftliche Untersuchungen, die sich darin überboten, die literarische Gestalt des vorliegenden Evangeliums aufzulösen und neu zusammenzusetzen, Vorstufen und Schichten zu rekonstruieren, aus denen das Werk entstanden und zusammengesetzt sei. Die Gestalt des Evangeliums in seiner jetzigen Fassung spielte dabei keine Rolle. Ich denke, dass dieser Ansatz nicht haltbar ist.
Sie haben festgestellt, das Johannes-Evangelium sei unter Bibelwissenschaftlern nicht sehr beliebt. Woran liegt das?
Ich will keine allgemeine Abneigung der Exegeten gegen das Joh-Ev behaupten. Aber manche Kolleginnen und Kollegen haben mir gesagt – oft eher beiläufig –, dass sie sich mit dem JohEv wenig beschäftigen. Das liegt vielleicht an der gerade angedeuteten wissenschaftlichen Auseinandersetzung um das Evangelium, an der sich nicht alle beteiligen wollen. Ganz sicher liegt es auch an seinen „hohen“ Aussagen über Jesus als den vom Himmel herabgekommenen Gesandten, der eins mit dem Vater ist und in dem sich Gott sehen lässt. Diese mythologische Sprache befremdet viele. Tatsächlich ist sie auch schwer zu vermitteln.
Wo liegen die markantesten Unterschiede zwischen Johannes und den Synoptikern Matthäus, Markus und Lukas?
Die Unterschiede liegen vor allem in dieser Sprache. Im JohEv redet Jesus ständig über sich selbst, über seine Beziehung zu Gott. Nur in ihm und durch ihn ist der Vater erkennbar, er allein ist der Weg zum Vater, wer ihn gesehen hat, hat den Vater gesehen. Solche Aussagen finden wir in den Synoptikern nicht oder äußerst selten. Die Sprache des johanneischen Jesus ist aber keine authentische Jesusrede. Es ist der Autor, der Jesus so über sich reden lässt. Das wird an der Rolle des Geistes klar: In den Abschiedsreden sagt Jesus seinen Jüngern, dass sie sein Reden jetzt noch nicht erfassen können. Erst der heilige Geist, den er ihnen nach Ostern sendet, wird sie an alle Worte Jesu erinnern und in ihre Wahrheit, ihren wahren Sinn einführen. Zeugnis dieser nachösterlichen Auslegung durch den Geist ist eben das JohEv. Es ist also kein Protokoll der Originalsprache Jesu, sondern vermittelt ihre tiefere Dimension. Der Autor interpretiert in ihm durch den Geist die Worte Jesu.
Welches Anliegen verfolgt das Johannes-Evangelium?
Die Aussagen des JohEv über Jesus sind im eigentlichen Sinn Aussagen über Gott. Indem über den Menschen Jesus von Nazaret gesprochen wird, wird über Gott gesprochen. Das irdische, geschichtliche Wirken des Jesus von Nazaret war für den Autor so großartig und überzeugend, dass für ihn darin sichtbar geworden ist, wie Gott ist. An Jesu Taten lassen sich Gottes Taten ablesen, in seinen Worten werden Gottes Worte gehört und durch seine Liebe kommt Gottes Liebe vollendet bei den Menschen an. Wer Gott erkennen, hören, erfahren, ja sehen will, muss deshalb zu Jesus kommen. Außerhalb von ihm ist Gott nicht erfahrbar, ohne ihn gibt es keinen Zugang zu Gott. Der Mensch Jesus ist die „Methode“, um mit Gott in Kontakt zu kommen, ohne ihn ist der Weg zu Gott verschlossen. Gott hat sich ganz an den Menschen Jesus gebunden. Ein direktes Wirken Gottes gibt es nicht und damit auch keine Möglichkeit einer unmittelbaren Begegnung mit Gott. Jedenfalls nicht auf Erden.
Geht es denn im Johannes-Evangelium um den Menschen Jesus, nicht um den dogmatisierten Christus? Sie haben vor drei Jahren ein Buch geschrieben „Jesus vor dem Dogma“ und darin die Botschaft des geschichtlichen Jesus vorgestellt. Hat Ihr Buch eine Verbindung zu diesem Jesusbuch?
Ich glaube, dass man diese Verbindung ziehen kann. In meinem Jesusbuch habe ich die Meinung vertreten, dass die Verkündigung des irdischen Jesus von sich aus in eine dogmatische Sprache hin-überführt. Der Autor des JohEv ist diesen Schritt gegangen. Er will vom irdischen Menschen Jesus und seiner Bedeutung sprechen, meint aber, dies nur in einer mythologischen und theologischen Sprache tun zu können. Und er will seine Leser in die Sprache einüben.
Wie können wir dem Evangelium gerecht werden? Sie setzen mehr aufs Hören als aufs Lesen. Warum?
Hören ist leichter als selbst zu lesen. Und wenn das JohEv wieder als ein Werk, als ein Ganzes wahrgenommen werden soll, empfiehlt sich das Hören. Ich hatte das Glück, das JohEv mit Schauspielern des Staatstheaters Mainz als Lesedrama vortragen zu lassen. Die Aufführungszeit waren 150 Minuten. Die Zuhörer machten eine unvergleichliche Erfahrung. Die ganze literarische Größe des Werkes kam vor ihnen zur Geltung – eben Weltliteratur!
Dieses „Experiment“ bewies mir: Das JohEv mit seinen großen Dialogen und Szenen ist gestaltet wie ein Drama. Häufig habe ich später daran mitgewirkt, von Laien als Lektoren das ganze Evangelium in einer liturgischen Vigil sprechen zu lassen. Diese Form der Vigil kann in jeder Gemeinde vollzogen werden.
Interview: Johannes Becher
Ludger Schenke: Das Johannesevangelium. Vom Wohnen Gottes unter uns, Herder Verlag,
240 Seiten, 25 Euro
Die Kirchenzeitung verlost drei Exemplare des Buchs, bitte rufen Sie an am Montag, 20. August,
von 10 bis 10.15 Uhr: 06131 / 287 55 35