Das tiefste Erlebnis

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Die SPD-Politikerin Gesine Schwan ist am 6. Januar Ehrengast und Rednerin beim Neubrandenburger Dreikönigs-Benefizabend. Was sie über Hospizarbeit, Kirche, Ost-West-Beziehungen denkt, verrät sie vorweg in folgendem Interview.

Festrednerin des Dreikönigsvereins: die Professorin und Politikerin Gesine Schwan
Festrednerin des Dreikönigsvereins: die Professorin und Politikerin Gesine Schwan. Foto: Sven Simon (dpa)

Sie kommen als Ehrengast zum Neubrandenburger Dreikönigsverein. Was verbinden Sie mit den heiligen drei Königen? 

Ich bin ein gläubiger Mensch, gehe auch zur Messe. Ich würde mich aber nicht als konfessionellen Menschen bezeichnen. Mein Vater war evangelisch, meine Mutter katholisch. Da ging es geistlich bunt zu. Ich habe mich erst mit 21 Jahren selbst taufen lassen. 

…und sind katholisch geworden. Warum nicht evangelisch? 

Dass ich katholisch geworden bin, hat biografische, aber auch theologische Gründe. Die katholische Theologie hat nicht das ständige Sündenbewusstsein, die Tendenz, der Mensch könne nichts Gutes von sich aus bewirken. Ich halte es eher mit Thomas von Aquin, der von dem „Heiden“-Philosophen Aristoteles gelernt hat und sagt: Du kannst deinen eigenen Regungen vertrauen, vor allem auch deiner Vernunft. Wir Menschen sind nicht ganz von der Sünde zerfressen. 

Sie werden in Neubrandenburg vor einem vollen Saal von Leuten stehen, die sich für ein Hospiz, Israel-Austausch, soziales Ehrenamt, Bildung einsetzen. Verraten Sie, was Sie denen sagen werden? 

Das weiß ich noch nicht. Aber da das Hospiz eine Rolle spielt, werde ich sicherlich die Frage nach dem Sterben ansprechen. Das Sterben enthält aus unserer Sicht ja auch Tröstliches. Ich bin mit dem Sterben mindestens seit 30 Jahren vertraut. Damals ist mein erster Mann gestorben. Sterben ist das Schwerste, das ist nicht zu leugnen. Aber es ist auch das tiefste Erlebnis, das ein Mensch haben kann. Ich sehe im Tod nicht das Strafgericht Gottes, aber man sollte den Tod auch nicht einfach wegwischen, seine tiefe Bedeutung verdrängen. Ich habe große Hochachtung vor denen, die Sterbende begleiten. Deshalb fahre ich auch gern den Weg nach Neubrandenburg. 

Ost-West-Begegnung gehört in Ihren Lebenslauf. Vor 30 Jahren war die Mauer gefallen. Heute spricht man wieder von tiefen Gräben, die sich zwischen Ost und West auftun. Was ist da falsch gelaufen? 

Vieles ist ja auch gut gelaufen. Ich treffe sehr selten jemanden, der sich in die DDR zurückwünscht. Wir müssen aber sehen: Es gibt eine große Asymmetrie zwischen Ost und West. Der Zweite Weltkrieg hat den Menschen im Osten eine viel schwerere Erbschaft hinterlassen als denen im Westen. Als die Mauer fiel, lief die weitere Entwicklung wieder asymmetrisch. Die Leistungen von Menschen im Osten wurden weniger wertgeschätzt als im Westen – die ihr System ja auch nicht nur selbst geschaffen, sondern zu großen Teilen von den westlichen Siegermächten bekommen haben. Wer aus dem Westen kommt, muss sich nicht dafür rechtfertigen, was er vor 1989 gemacht hat. Aber Menschen aus dem Osten müssen das, bei ihnen liegt immer die Beweislast dafür, ob sie sich in dem undemokratischen System „ordentlich“ verhalten haben. Es sind auch viele Versprechen, die 1989 gemacht wurden, später nicht erfüllt worden. 
Im Westen ging der Aufbau der Demokratie zusammen mit wirtschaftlichem Aufschwung. Im Osten mit Verlusten, vor allem von Arbeitsplätzen. Vielen ging es erst einmal schlechter. Und wem es schlechter geht, der muss schon ein starker Mensch sein, um sich für das demokratische System zu begeistern. 

Was kann man tun? 

Man muss ein Gefühl entwickeln, dass Demokratie gemeinsame Teilhabe ermöglicht. Ich habe ein Beteiligungsprojekt in der Lausitz auf den Weg gebracht. Das ist nicht leicht – weil man im Strukturwandel nach so vielen Umbrüchen in der Region Personen braucht, die sich die Anliegen zu eigen machen. Man findet einige, die aktiv sind und die genügend Selbstwertgefühl mitbringen. Aber vielen fehlt das. Ich muss auch sagen: Die Säkularisierung hat hier heftige Spuren hinterlasssen. Glaube wird oft nur als Aberglaube gesehen. Aber damit fehlt eine tiefe und wichtige Quelle von Eigenständigkeit, Mut und Selbstvertrauen. 

Ihre Grundüberzeugungen, sagen Sie, beruhen auf dem christlichen Glauben. Die Kirche, der Sie angehören, ist derzeit auch krisengeschüttelt. Ist da noch Hoffnung? 

Diese Frage bekomme ich jetzt dauernd gestellt: Politik, SPD, Klimawandel, Kirche. Überall ist Krise. Was die Kirche betrifft: Kirche ist Stiftung Gottes und menschliche Organisation zugleich. Man darf nicht übersehen: Bei allen Fehlern gibt es in der Kirche großartige Arbeit und großartige Menschen. Die Kirche wird aber immer kleiner werden und sich dadurch verändern. Der Politologe Karl Deutsch hat in den 60er Jahren gesagt: „Macht ist die Möglichkeit, nicht lernen zu müssen.“ Die Kirche wird an Macht verlieren. Also wird sie lernen. 

Interview: Andreas Hüser

Zur Person:

Prof. Dr. Gesine Schwan, geboren 1943 in Westberlin, hat als Politikwissenschaftlerin in den USA und als Präsidenten derEuropa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder gearbeitet. Als SPD-Politikerin hat sie zweimal für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert und zuletzt für den SPD-Parteivorsitz.