Ostern
Der Tod ist golden
Manchmal ist man hin und weg von einem Kunstwerk. Mir ging es so mit der Installation „Der Tod von James Lee Byars“, die kürzlich in der Bremer Kunsthalle gezeigt wurde. Ein Bild vom Tod aus purem Gold. Wenn das nicht österlich ist ..
Im Juni 1994 hatten einige Kunstfreunde von einer Galerie in Brüssel eine persönliche Einladung bekommen. Am 1. Juli um 19 Uhr sollten sie dem Tod von James Lee Byars beiwohnen. Der Künstler aus Detroit in den USA war zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt und krebskrank. Unheilbar krebskrank, das wusste er. Und setzte sich künstlerisch mit seinem bevorstehenden Tod auseinander.
Als die Gäste vor der Galerie Marie-Puck Broodthaers ankamen, blickten sie durch die Schaufenster in einen Raum von purem Gold. Tausende Abschnitte Blattgold funkelten in diesem nach vorne offenen Raum, etwa sechs Meter hoch, 4,85 Meter breit und 5,60 Meter tief. Ein gewaltiges Leuchten.
Dann kam der Künstler, James Lee Byars. „Ich bin sehr krank“, sagte er. „Normalerweise hätte ich schon vor einem Jahr sterben sollen. Jeder, sogar die Ärzte sind überrascht, dass ich immer noch lebe. Nun, indem ich eine Performance wie diese mache, versuche ich, die Idee des Todes zu akzeptieren.“
Byars ging in den goldenen Raum hinein, legte sich auf den Boden und verharrte dort einige Minuten. Dann stand er auf und verschwand mit einem Taxi. Seine Galeristin platzierte dort, wo Byars’ Kopf, seine Hände und seine Füße gelegen hatten, fünf weiße funkelnde Kristalle, die der Künstler ihr übergeben hatte.
Mehrere Monate lang konnte man die Installation in der Brüsseler Galerie besuchen; viele taten es. Byars aber zog sich bewusst als Künstler zurück und überließ die Deutung seines Werks den Betrachtenden.
Und in der Tat ist ja genau das das Wesen der modernen Kunst: dass nicht alles auf den ersten Blick zu erkennen ist („Aha: Ein Segelboot auf dem Meer im Sturm“), sondern dass jeder Betrachter selbst überlegen muss, was das Werk für ihn oder für sie bedeutet. Und für ein Werk, das sich mit dem Tod auseinandersetzt, gilt das allemal.
Was bedeutet das Werk für mich?
James Lee Byars war – wie vermutlich viele Künstler – ein seltsamer Typ. Vor allem war er unstet, immer unterwegs, lebte zeitweise in Asien, dann wieder in Europa oder in den USA; gestorben ist er in einem Hotel in Kairo. Er war ein, wie er selbst sagte, „ewiger Nomade“, der sich selbst verbot, mehr als vier Bücher gleichzeitig zu besitzen. Mir kommt dabei ein oft gesungenes Beerdigungslied in den Sinn:
„Wir sind nur Gast auf Erden
und wandern ohne Ruh
mit mancherlei Beschwerden
der ewigen Heimat zu.“
(Gotteslob Nr. 505)
Dass Gold die Farbe der Ewigkeit ist, das wissen religiöse Maler seit langer Zeit. Besonders auffällig ist das bei den Ikonen der orthodoxen Tradition. Jede Figur, egal ob Christus, Maria oder Heilige, sind auf goldenem Grund gemalt. Menschliches umgeben vom Göttlichen, Irdisches umgeben von Himmlischem.
James Lee Byars trug bei seiner Performance einen goldfarbenen Mantel, aber schwarze Schuhe und einen schwarzen Hut. Als er sich auf den Boden legte, sank er ein Stück in die goldenen Blätter ein, wurde quasi eins mit dem Gold, nur die Füße ragten heraus. Für mich heißt das: Im Tod endet das Gegenüber von Gott und Mensch, von irdisch und himmlisch, von Zeit und Ewigkeit. Im Tod gehen wir ein in diese goldene Ewigkeit Gottes, die alles überstrahlt, was wir aus dem Hier und Jetzt kennen, und wir selbst werden zu diesem Strahlen. Am Ende der Offenbarung des Johannes heißt es über die ewige Heimat, das himmlische Jerusalem:
Sie glänzt wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis ... Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut und die Stadt ist aus reinem Gold, auch die Straße der Stadt ist aus reinem Gold ... Es wird keine Nacht mehr geben und seine Knechte brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten.“
James Lee Byars hat als Künstler die Farbe Gold oft benutzt. Sie symbolisierte für ihn die Idee der Perfektion. Und damit meinte er durchaus nicht die äußere Perfektion, wie sie heutzutage so oft von uns gefordert wird: perfekte Väter, perfekte Mütter, perfekte Kinder, perfekte Karriere, perfektes Aussehen, perfektes Haus, perfektes Leben. Byars meint: „Perfektion ist eine Unmöglichkeit, außer in diesen außergewöhnlichen Momenten – auch Kairos genannt –, in denen Leben und Tod, Freude und Tragödie eins sind.“
Das schwarze Gegenstück
Mich erinnert das an den christlichen Begriff der Vollendung: Im Tod wird mein Leben zur Vollendung gelangen. Alles, was im Hier und Jetzt Stückwerk blieb, was nur zum Teil gelungen ist, was im Alltag auf der Strecke blieb, was Absicht war, aber nicht Wirklichkeit wurde – all das kommt in Gottes Reich zur Vollendung und macht mein unperfektes menschliches Leben perfekt.
Das ist ein sehr optimistisches Bild vom Tod und von dem, was danach kommt. Aber kann es nicht auch dunkel werden? Das Kunstwerk von James Lee Byars hatte im Original in der Brüsseler Galerie interessanterweise zwei Teile, und der zweite war schwarz: ein kleiner Raum neben dem goldenen, ein schwarzer Vorhang davor. Niemand hat ihn beachtet, niemand hat ihn betreten, auch der Künstler nicht. Irgendwann wurde er von der Galeristin für eine andere Ausstellung genutzt – der goldene blieb acht Monate lang stehen. Und wenn das Kunstwerk heute ausgestellt wird, redet niemand mehr von dem schwarzen Gegenstück.
Spannend, oder? Dass die dunkle Seite des Todes einfach keine Beachtung fand. Dass die Hoffnung größer ist als die Angst. Christlich gesprochen: dass der Glaube an Gottes Barmherzigkeit und Liebe immer größer ist als die Furcht vor dem strengen Richter. Dass wir an Heil glauben, nicht an Verdammung, an Auferstehung zum Leben.
Manchmal geht man in eine Ausstellung und ist hin und weg von einem Kunstwerk. Mir ging es so mit der Installation „The Death of James Lee Byars“. Der Künstler sagte zu seinem Werk: „Ich hoffe, dass die Menschen durch meine Einübung meines eigenen Todes etwas Sinnvolles für sich selbst erfahren werden.“ Für mich gilt das. Und weil ich einige Minuten lang die Menschen beobachtet habe, die in der Bremer Kunsthalle vor diesem goldenen Grab standen, und lauschte, wie sie darüber sprachen, kann ich sagen: Es gilt nicht nur für mich.
Susanne Haverkamp