Anstoss 16/22

Die betenden Teelichter

Image
SYMBOL_Anstossbild_0.jpg

„Bleiben Sie ruhig liegen, ich komme schon zurecht.“ Die Küsterin machte einen großen Bogen um die junge Frau, die da auf dem Rücken lang ausgestreckt vor dem Altar lag. Die Frau atmete ruhig, hielt die Augen geschlossen.


Sie war groß, schlank, etwa Ende zwanzig und trug einen viel zu großen Trenchcoat. Auf einem Stuhl an ihrer Seite brannten drei Teelichter. Wir feierten die Abendmesse in kleinerer Runde rund um den Altar. Alle saßen so, dass die Fremde auch liegend integriert war. Mit Beginn des Gottesdienstes richtete sie sich auf. Während der Feier strömten ihre Tränen tonlos. Mit den Händen umklammerte sie die drei Teelichter. Am Ende bedankte sie sich auf Englisch. „Es ist schön, dass ich einfach da sein kann, ohne, dass mich jemand wegschickt.“
Tamara hat die Kirche, die seit Corona meist ganztägig geöffnet ist, als ihren Ort der Ruhe entdeckt. Sie studiert in Berlin. Nach dem Studium wollte sie eigentlich für sich und ihre Familie ein Haus bauen. Doch dann kam der Krieg. Vorher, Ende Januar, starb plötzlich ihr Vater. Eine Kerze brannte für ihn. Vor 10 Jahren war die Großmutter gestorben. Eine Kerze brannte für sie. Ob die beiden wohl im Himmel seien, wollte Tamara wissen. Sie möchte ihnen etwas Gutes tun, um Licht als Wegweiser beten, falls sie noch im Nirgendwo umherirren.
Der Tod ist so dunkel und kalt. Plötzlich wurde klar, dass die dritte Kerze für die restliche Familie steht. Ja, grübelte Tamara, sie brauche kein Haus mehr bauen.
Mir lief ein Schauer kalt den Rücken herunter. Sie fühlte sich so verloren, ohne Halt, allein. Worte funktionierten jetzt nicht. Mit Blick auf die drei brennenden Kerzen in ihrer Hand fragte ich leise: „Kannst du dir vorstellen, göttliches Licht in dir zuzulassen? Osterlicht. Kannst du mit diesem Bild etwas anfangen?“ Es war ein hilfloses, dringliches Stoßgebet um heilende Präsenz des Auferstandenen für Tamara. Dass sie im Licht seine Gegenwart spürt, in der sie sich bergen darf. Und tatsächlich. Seit dieser Begegnung finden wir immer mal wieder drei kleine Teelichte auf dem Altar. Und vor kurzem haben wir sie sogar laut singen gehört. Die Melodie klang lebendig.

Lissy Eichert, Berlin