Sant'Egidio: Humanitäre Korridore für Geflüchtete

Die Hilfe endet nicht am Flughafen

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Sant'Egidio:  Begrüßung einer Geflüchteten
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Ankunft in Rom: Ehrenamtliche von Sant’Egidio begrüßen Flüchtlinge.

 

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Fotos: Marco Paviani 

Seit zehn Jahren ermöglicht die katholische Gemeinschaft Sant’Egidio Flüchtlingen eine sichere Einreise in die EU. Das Besondere an dem Projekt: Gastfamilien und Ehrenamtliche unterstützen die Menschen beim Start in das neue Leben.

Als Zohra vor drei Jahren ihr Heimatland Afghanistan verließ, wollte sie nicht nur eine bessere Zukunft. „Ich wollte überhaupt eine Zukunft“, sagt die 21-Jährige. Sie hatte gerade die Schule beendet, sie hatte Träume und Wünsche. Dann kamen die Taliban an die Macht. „Man hat uns Frauen die Stimme genommen, die Schule, die Arbeit, das Recht, allein auszugehen und zu entscheiden, wer wir sein wollen“, sagt Zohra. Ihr Vater drängte sie, das Land mit ihren Brüdern und der Familie ihres Onkels zu verlassen. Sie floh nach Pakistan – ohne Dokumente, ohne Arbeit. „Die Angst begleitete mich wie ein Schatten“, sagt Zohra. „Ich war am Leben, aber ich fühlte, dass ich nicht mehr existierte.“

Dass sie heute in Rom studiert, hat sie der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio zu verdanken. Seit fast zehn Jahren organisiert die Laienbewegung humanitäre Korridore, um Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten eine legale Einreise in sichere Länder zu ermöglichen. „Sie haben uns nicht mit Mitleid angesehen, sondern mit Respekt, Aufmerksamkeit und Menschlichkeit“, sagt Zohra. Vor zwei Jahren konnte sie mit 217 anderen Menschen per Flugzeug nach Italien aufbrechen. 

Cesare Zucconi ist Generalsekretär von Sant’Egidio und hilft, die humanitären Korridore zu errichten. „Viele Leute müssen zusammenarbeiten, damit wirklich ein Flugzeug in Rom landet“, sagt er. Dafür sind Teams von Sant’Egidio in Flüchtlingslagern unterwegs – im Libanon, in Äthiopien, in Pakistan und Iran, auch in Libyen und Gaza. Sie suchen den Kontakt zu Hilfswerken und kirchlichen Organisationen oder bekommen Anfragen von Angehörigen, die bereits in Italien sind, um die Menschen zu finden, die in den Lagern besonders gefährdet sind. „Wir müssen sehr diskret arbeiten“, sagt Zucconi. „Wir können nicht einfach in ein Lager mit tausenden Menschen gehen und fragen, wer nach Italien möchte.“

„Eine schnelle Integration ist für uns das Wichtigste“

Eine Chance auf ein Visum bekommen jene, die verletzt oder schwer krank sind. Alleinstehende Frauen mit Kindern, Witwen oder Menschen mit Behinderung. Und Familien, in denen mindestens eine Person arbeiten kann. „Das ist wichtig für die Integration im neuen Land“, sagt Zucconi. Im nächsten Schritt prüft das Innenministerium des Aufnahmelandes die Identität der Geflüchteten. „Wir möchten Sicherheit für die Geflüchteten, aber auch Sicherheit für das Land, das sie einreisen lässt“, sagt Zucconi. Momentan hat die Gemeinschaft Abkommen mit Italien, Frankreich, Belgien und kleineren Staaten wie Andorra und San Marino geschlossen. 

Cesare Zucconi
Cesare Zucconi. Foto: Marco Paviani

Als Sant’Egidio das Projekt 2015 startete, war die Gemeinschaft auf der Suche nach einer Lösung für die vielen syrischen Flüchtlinge, die vor dem Bürgerkrieg in ihrem Heimatland flohen. „Wir wollten verhindern, dass die Menschen Schleppern in die Hände fallen oder im Mittelmeer ertrinken“, sagt Zucconi. 

Mittlerweile sind über die humanitären Korridore von Sant’Egidio rund 10 000 Menschen sicher in die EU eingereist. Durchschnittlich kommt etwa in Rom alle zwei Monate ein Flugzeug mit Flüchtlingen aus einem Kriegsgebiet an. 

Die Hilfe von Sant’Egidio endet aber nicht am Flughafen. Die Gemeinschaft begleitet die Menschen noch mindestens eineinhalb Jahre. Sie kümmert sich um alles: die Ausreise, die Anerkennung des Flüchtlingsstatus, die Aufnahme und die Integration im neuen Heimatland. Keiner der Geflüchteten kommt in ein staatliches Aufnahmelager. Kirchengemeinden, Vereine, Gruppen und Familien engagieren sich ehrenamtlich als Gastgeber oder in Sprachkursen. „Eine schnelle und volle Integration ist für uns das Wichtigste“, sagt Zucconi. 

Die humanitären Korridore der katholischen Gemeinschaft gelten mittlerweile weltweit als Vorbild. „Wir wollten ein Modell schaffen, das Leben rettet“, sagt Zucconi. „Und wir haben gezeigt, dass unser Modell funktioniert. Noch mehr Länder könnten es kopieren und anwenden.“ Er wünscht sich, dass auch Deutschland mitmacht. Doch danach sieht es aktuell nicht aus. „In Europa ist die Rede von Grenzsicherungen, aber nicht davon, Leben zu sichern“, sagt Zucconi. Dabei könnten die Länder sogar profitieren, denn in vielen Branchen werden Arbeitskräfte gesucht. „Es ist nicht nur eine Frage der Humanität. Unser Kontinent sollte ein Eigeninteresse an Einwanderung haben“, sagt Zucconi.

Er gibt nicht auf. Immer wenn Flüchtlinge am römischen Flughafen ankommen, organisiert er ein Willkommensfest und eine Pressekonferenz. „Ich bin überzeugt, dass diese positiven Nachrichten helfen“, sagt er. „Man sieht die Männer, Frauen, Kinder, die glücklich sind, die lachen, die rufen: ‚Es lebe Italien!‘“ In den Tagen danach melden sich oft Menschen bei ihm, die bereit sind, Sant’Egidio zu unterstützen – sei es mit eigenem Einsatz oder mit Spenden. Denn auch die sind nötig: Die Gemeinschaft finanziert Einreise, Aufenthalt und Kurse für die Geflüchteten. Zucconi weiß, dass Sant’Egidio nur einem kleinen Teil der Geflüchteten weltweit helfen kann. Aber er sagt: „Jedes gerettete Leben ist Grund genug, weiterzumachen.“

Kerstin Ostendorf

Zur Person

Cesare Zucconi ist Politologe und Historiker an der römischen Universität La Sapienza. Seit 2008 ist er Generalsekretär der Gemeinschaft Sant’Egidio.