„Die Uhren stehen still“

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David Witzthum bei seinen Ausführungen im Panoramaraum der Katholischen Akademie.
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Foto: Matthias Schatz

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David Witzthum bei seinen Ausführungen im Panoramaraum der Katholischen Akademie.

Der Historiker und Fernsehjournalist David Witzthum gab in der Katholischen Akademie aufschlussreiche Einblicke in die gesellschaftliche Verfasstheit
Israels nach dem Terrorangriff der palästinensischen Hamas-Miliz.

„Militärisch muss Israel die Hamas besiegen.“ Sonst würden gleich die vom iranischen Regime unterstützten islamistisch-schiitischen Milizen im Libanon und Jemen, also die Hisbollah und die Huthi-Rebellen, und andere in den Krieg eintreten. „Und das wäre zu viel für Israel.“ Das sagt ein Israeli, der sich selbst als „Oppositionellen“ in seinem Heimatland bezeichnet: David Witzthum. Der Historiker und Politikwissenschaftler war Korres­pondent des israelischen Hörfunks und Fernsehens in Deutschland sowie Moderator und Chefredakteur im Ersten israelischen Fernsehen. Und er war Anfang Dezember Gastredner in der Katholischen Akademie Hamburg, wo er unter anderem jene oben zitierten Sätze sagte.

Der 74 Jahre alte Witzthum gab – aus seiner subjektiven Sicht, wie er in ruhigem, aber klaren und entschiedenem Tonfall bemerkte – aufschlussreiche Einblicke in die gegenwärtige Verfassung der israelischen Gesellschaft und Politik. Zumindest einige davon werden in deutschen Medien kaum oder gar nicht beachtet. „Für uns sind die Uhren am 7. Oktober stehen geblieben, wir leben seitdem in einer nicht enden wollenden Gegenwart“, sagte Witzthum zu Beginn seiner Ausführungen. 

Man denke stets an die Geiseln, die in der Hand der palästinensischen islamistisch-sunnitischen Terrororganisation Hamas seien. Zugleich kämpften aber Soldaten, die politisch völlig anderer Auffassung seien, Seite an Seite im selben Panzer. „Israel sieht sich seit dem 7. Oktober kollektiv vergewal­tigt, als Schicksalsgemeinschaft.“ Obwohl die Gesellschaft politisch sehr gespalten sei, sei nach dem Angriff der Hamas eine große übergreifende Solidarität in der Bevölkerung entstanden. „Es gibt schon Lieder über den Krieg“, bemerkte Witzthum. 

Diese Solidarität trenne Israel von der übrigen Welt, in der vorwiegend über die Opfer im Gazastreifen berichtet werde. „Darüber wird in Israel fast gar nicht in den Medien berichtet, dafür aber über unsere gefallenen Soldaten.“ Man sehe jetzt auf Demonstrationen auch mehr israelische Flaggen. „Die zeigen jetzt alle, früher zeigten sie eher Rechte.“ Auch die Kluft zu den ultra-orthodoxen Juden werde möglicherweise kleiner. 

Nach Witzthums Ansicht hatte Jahja Sinwar, der Leiter der hamas im Gazastreifen, darauf spekuliert, dass Israel aufgrund des Risses zwischen einem eher weltoffenen und liberalen Teil der Gesellschaft einerseits und einem rechtsnationalistischen und konservativen andererseits auch militärisch geschwächt sei. „Das ist aber nicht der Fall. Wir sind im Gegenteil stärker.“ Die palästinensischen Opfer würden Sinwar überhaupt nicht interessieren, sie dienten ihm nur als Märtyrer in der Propaganda.


Vorschlag einer Drei-Staaten-Lösung


Als einen möglichen Grund für den Angriff führte Witzthum Versuche an, Verbindungen zwischen Israel und den Arabischen Emiraten sowie Saudi-Arabien aufzubauen. „Das war ein Schlag für Iran, die Hisbollah und die Hamas.“

Aber auch der israelische Premierminister Benjamin Netan­jahu habe sich verspekuliert. Er habe Gaza und Westjordanland auseinandertreiben wollen, um einen palästinensischen Staat zu verhindern. „Das ist jetzt gescheitert“, so Witzthum. Auch lasse sich kein Sieg über die gesamte Hamas erringen, weil sie über den militärischen Flügel hinaus eine soziale Bewegung und Idee darstelle.
 
So kam Witzthum gegen Schluss seiner Ausführungen auf die Frage zu sprechen, was nach einem militärischen Sieg Israels im Gazastreifen geschehen könne. „Es muss eine politische Lösung geben“, so Witzthum. In diesem Zusammenhang nannte er Marwan Barghuthi, einen Politiker der Fatah-Bewegung, der auch der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, angehört. Barghuthi ist seit rund 20 Jahren in Israel inhaftiert und gilt in bestimmten Kreisen als „palästinensischer Nelson Mandela“, wie Witzthum sagte. Eine Lösung für die weitere Verwaltung des Gazastreifens werde es aber nur mit Zustimmung Saudi-Arabiens und einer Beteiligung der USA.

Eine dauerhafte Bewältigung des Konflikts sieht Witzthum erst „in ferner Zukunft, vielleicht in 30 Jahren“. Sie bestehe dann möglichwerweise auch nicht aus einer Zwei-Staaten-Lösung, da es im Westjordanland schon viele jüdische Siedler gebe. „Es könnte eine Drei-Staaten-Lösung geben“, sagte Witzthum. Israel, Palästina und Jordanien könnten einen ähnlichen Verbund bilden, wie es die Niederlande, Belgien und Luxemburg mit der Benelux-Union gemacht hätten. Oder sie könnten Kantone eines einzigen Staates sein. 

Witzthum war anschließend ein außerordentlich gefragter Gesprächspartner der Besucher. Unter anderem bestätigte er dabei, dass unter den Hamas-Führern Milliardäre seien, die beispielsweise Hotels im Nahen Osten und weiteren asiatischen Gebieten hätten. Allein aus Katar erhalte die Hamas zudem jedes Jahr rund 360 Millionen Dollar. Ihr korruptes System führe auch dazu, dass es in den Tunneln für die Kämpfer Elektrizität und sogar Klimaanlagen gebe, in den benachbarten oder darüber ligenden Krankenhäusern aber nicht. 

Matthias Schatz