Die Welt auf elf Quadratmetern

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Auf den ersten Blick fallen einem viele Gruppen ein, die unter der aktuellen Corona-Situation zu leiden haben. Die wenigsten denken da an Studenten und welche Schwierigkeiten sie in ihrem veränderten Alltag belasten. 

Student an seinem Arbeitsplatz im Studentenwohnheim unter Corona-Bedingungen
Nur ein kleiner Ausschnitt, das sieht man von Kevin und seiner Umgebung über Zoom. Wohnen und Lernen auf engsten Raum. Foto: Anna Neumann

Ein Bett, ein Schreibtisch mit Drehstuhl, eine Waschnische, Schrank, Regal und ein kleiner Tisch mit Fernseher, damit ist das Zimmer voll. Wer mit Kevin in einer Zoom-Videokonferenz spricht, sieht nur einen kleinen Ausschnitt seines Zimmers und irgendwie doch alles. „Ich könnte von meinem Stuhl direkt ins Bett, ohne den Boden zu berühren.“ Er deutet eine Seitwärtsrolle Richtung Bett an. Hinter ihm hängt ein Wandregal. Darauf: eine Tasse, die als Blumentopf umfunktioniert wurde, daneben ein kleines Pikachu-Plüschtier und eine grüne Mütze aus dem Computerspiel „League of Legends“, die auf seine Gamer-Leidenschaft hindeutet. Das Zimmer ist eine bunte Mischung aus Geschenkeladen und Schlafzimmer. Was sich bei den meisten auf mehrere Räume verteilt, ist bei Kevin auf 11 Quadratmetern hochkonzentriert. 

Kevin studiert Bauingenieurwesen und lebt in einem Hamburger Studentenwohnheim, in einer Flurgemeinschaft mit 15 Menschen. Sie teilen sich Wohnzimmer und Küche, einige von ihnen sogar ein Bad. Jetzt mit Corona gelten dort viele Regeln. Die Hausverwaltung hat eine Rundmail geschickt. Kein Flurfremder darf die Küche und das Wohnzimmer betreten. Heimbar, Billard-Raum und Sporthalle, alles Orte, wo sich die Studenten vorher versammelt haben, sind geschlossen. 

Jetzt verbringt Kevin die meiste Zeit in seinem Zimmer, anstelle etwas mit seinen Freunden zu unternehmen. Das Wohnheim war für ihn bisher ein Rückzugsort. Wenn er den ganzen Tag in der Uni war und danach heimkam, hatte er das Gefühl, viel geschafft zu haben, sich eine Pause gönnen zu können. Dieses Gefühl ging als erstes verloren. „Wenn man nur zu Hause ist, hat man jederzeit das Gefühl, man könnte mehr machen.“ Kevin vermutet, das ist ein Grund, warum er seitdem schlechter schläft. Er findet das digitale Semester an sich nicht so schlecht, aber er vermisst die Präsenz-­Vorlesungen. Ihm fehlt die Motivation. Die zur Verfügung gestellten Video-Vorlesungen machen es leichter, sie einfach aufzuschieben. Ihm fehlt das Gefühl, so etwas wie Feierabend zu haben. 

Er möchte jetzt durch Sport und frühes Aufstehen wieder mehr Routine in seinen Alltag bringen. „Alle zwei Tage Joggen mit zwei Freunden aus dem Wohnheim und an den anderen Tagen Eigengewichtstraining“, sagt der Student. Dafür hat er sich Hanteln und das Buch „Workout ohne Geräte“ von einem Mitbewohner ausgeliehen. 

Auch die Stimmung in der Wohngemeinschaft hat sich verändert. In den ers­ten Wochen des Corona-Lockdowns war sie noch gut. Die Leute haben zusammen gekocht oder gepuzzelt. Je länger es sich allerdings hingezogen hat, desto dünnhäutiger schienen sie alle zu werden. „Streit kommt öfter vor, oft auch über Unwichtiges.“ 

Kevin ist 90 Prozent seiner Zeit in seinem Zimmer, hat seit Wochen immer nur dieselben Menschen um sich. Alle Mitbewohner sind die ganze Zeit im Wohnheim. Schnell ist es dann in Küche und Wohnzimmer zu voll. Die Zimmernachbarn meiden sich. Um aus der Blase des Wohnheims zu entfliehen, hilft meistens nur rausgehen. Vor Corona ist Kevin jeden Tag zur Uni gefahren. Jetzt findet alles zu Hause statt. Neben voraufgezeichneten Video-Vorlesungen hat er Präsenzvorlesungen über Zoom. Da können sich alle Teilnehmer per Video-Telefonat übers Internet zuschalten. Um den Redner nicht zu stören, wird meist der eigene Ton ausgeschaltet. 

Der Tag des Studenten beginnt immer gleich. Nach dem Frühstück und etwas Sport setzt er sich an seine Vorlesungen und Übungen. Er sitzt vor seinen zwei Bildschirmen. Studienmaterialien liegen als Zettel ausgedruckt vor ihm. Er ergänzt sie während der Vorlesungen. Schließlich stehen die Prüfungen an. Das ist auch das Thema, mit dem sein Professor heute seine Vorlesung startet. Ge­plant waren Präsenzklausuren im Fe­bruar. Seit Langem wäre Kevin dann wieder mal in die Uni gefahren. Der Professor deutet nun an, dass mit der aktuellen Situation die Prüfungen auf der Kippe stehen. Es wird überlegt, die Klausuren einfach zu verschieben. Kevin blickt betrübt auf seinen Bildschirm. „Ich finde das nicht so cool. Dann habe ich ja noch mehr Zeit zum Prokras­tinieren.“ Prokrastinieren, das heißt aufschieben, eine Gefahr für viele im Studium. Kevin erklärt, dass er das Lernen gerne aufschiebt, wenn er keinen genauen Prüfungstermin kennt. „Wenn wir es zwei Wochen verschieben, dann vergessen Sie das Gelernte in den zwei Wochen nicht“, ist der Professor aus dem Bildschirm zu hören. „Na toll, ich vergesse da alles!“ Kevin will nach Plan für seine Prüfungen lernen und braucht dafür etwas Zeitdruck.

Kevin sitzt von früh bis spät vor dem Computer. Immer wieder muss er aufspringen, einen Schritt zum Drucker machen und zusätzliches Material ausdrucken, das der Professor vor der Vorlesung vergessen hatte hochzuladen. Je länger die Veranstaltung über Zoom dauert, des­to mehr schwindet Kevins Aufmerksamkeit. Er wechselt nun immer häufiger seine Sitzposition und seine Augen schweifen vom Bildschirm ab. Er spielt mit den Gegenständen auf seinem Schreibtisch. Wenn es gar nicht mehr geht, steht er auf und macht Sport.

„Mein Fokus ist sowas von weg“, seufzt er. Immer öfter muss er gähnen, bewegt seine Arme hin und her, um sich wieder etwas konzentrieren zu können. „Ich zeichne das am besten ab, dann habe ich etwas zu tun.“ Kevin beginnt, eine Skizze vom Bildschirm abzuzeichnen. „Jetzt ist es wieder gelöscht.“ Er war nicht schnell genug, die Skizze, die der Professor gezeichnet hatte, abzumalen.

Am Nachmittag macht Kevin eine Pause und bereitet sich etwas zum Mittag­essen. „Ich habe schon während der Uni-Zeit unregelmäßig gegessen, aber nicht in dem Ausmaß. Es gibt nicht mehr die Routine.“ Er hat keine Abwechslung mehr. Alles verschwimmt und er verwechselt regelmäßig seine Module und Vorlesungen. „Jede Woche ist irgendwie anders, aber doch gleich langweilig. Irgendwie fehlt momentan das Ziel.“

Am späten Nachmittag liegt Kevin mehr auf dem Tisch, als dass er daran sitzt und sich Notizen macht. Sein  Kopf sinkt immer tiefer auf die zusammengefalteten Arme. Plötzlich hört man von dem Dozenten aus dem Video einen Seufzer. „Ich kann nicht mehr“, sagt der. Kevin muss lachen. „Dass wir vorher nur Präsenzlehre hatten, erschwert das Online-Lernen und -Lehren nur noch mehr“, sagt er. Dann klingelt sein Handy. Eine Freundin hat ihn über eine Nachricht zu ihrem Geburtstag im Sommer eingeladen. Sie möchte den Geburtstag auf Mallorca feiern. Kevin hofft, im Sommer seine Freunde wiederzusehen und wie jedes Jahr Festivals zu besuchen. „Ich sollte nicht hoffen, sonst bin ich enttäuscht, wenn das alles nicht klappt“, sagt er und blickt aus dem Fenster.

Text u. Foto: Anna Neumann