Ein Ave Maria für Winnetou
Winnetou ist wieder da! Zumindest in einem gerade aufgekommenen Streit. Darf man Indianer darstellen, wie sie in Wirklichkeit nicht sind? Darf man überhaupt „Indianer“ sagen? Für Karl May, den Erfinder Winnetous, lagen die Probleme woanders. Er hielt sich selbst für Old Shatterhand.
VON ANDREAS HÜSER
„Wir betrachteten einander mit einem langen, forschenden Blicke, und dann glaubte ich, zu bemerken, dass in seinem ernsten, dunklen Auge, welches einen sammetartigen Glanz besaß, für einen kurzen Augenblick ein freundliches Licht aufglänzte, wie ein Gruß, den die Sonne durch eine Wolkenöffnung auf die Erde sendet.“ Zum ersten Mal stehen sich beide gegenüber: Winnetou, Häuptlingssohn der Apachen, der in jungen Jahren schon so viele Heldentaten vollbracht hat wie ein alter Krieger in seinem Leben. Auf der anderen Seite der aus Deutschland hergereiste Fremde, ein „Greenhorn“, das aber gerade einen Grizzly-Bären mit dem Messer erlegt hat und sich später „Old Shatterhand“ nennen darf.
Winnetou und Old Shatterhand sind zunächst Feinde. Der Deutsche begleitet einen Treck von Arbeitern, die eine Bahnlinie durch das Indianerland bauen wollen. Später werden sie Blutsbrüder. Beide verkörpern die Freundschaft und das Gute, das ständig durch niederträchtige Schurken bedroht ist. Winnetou und Old Shatterhand haben nie gelebt. Das muss betont werden, da ihr Erfinder Karl May lange behauptet hat, er habe die Geschichte selbst erlebt. May hielt sich selbst für Old Shatterhand. Er ließ sich die Waffen und Kleider seines Romanhelden anfertigen und posierte auf Fotos damit. In einem Vortrag 1897 erklärte Karl May einer verblüfften Hörerschaft, er beherrsche 1200 Sprachen und sei als Nachfolger Winnetous der Anführer von 35 000 Apachen.
In Wirklichkeit hatte May seine Kenntnisse des Wilden Westens aus Büchern geschöpft. Er war Ende 30, als zum ersten Mal die Figur des Old Shatterhand vor seinem geistigen Auge auftauchte. Sein bisheriger Lebenslauf war wenig ruhmreich. Mehrfach war er wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapelei angezeigt und verurteilt. Am Ende stand eine vierjährige Haftstrafe. Im Zuchthaus Waldheim bekam der Sträfling Kontakt mit dem katholischen Zuchthauskatecheten Johannes Kochta.
Die Wende: Karl May als Organist im Zuchthaus
Da Karl May Orgel spielen konnte, setzte Kochta ihn in den katholischen Anstaltsgottesdiensten ein. Die katholische Liturgie beeindruckte den Häftling. Und die Begegnung mit Kochta bewirkte in ihm einen Wandel. May unterließ fortan seine Gaunereien – bei denen es meist nur um geringe Werte ging. Er beschloss, stattdessen sein erzählerisches Talent zu nutzen. Und er wurde fromm.
Seine ersten Erzählungen veröffentlichte er in der katholischen Kirchenzeitung „Deutscher Hausschatz“. Es waren die Orientromane (heute Band 1 bis 6 der Karl-May-Werke), deren Hauptfigur „Kara Ben Nemsi“ mit Old Shatterhand so gut wie identisch ist. Religion spielt sowohl in den Wüstenromanen als auch in Winnetous Welt eine große Rolle. Im Orient führt „Karl“ alias „Kara Ben Nemsi“ lange Gespräche mit seinem muslimischen Begleiter Hadschi Halef Omar. Dabei finden beide Parallelen zwischen den Religionen und sehen die Ausrichtung auf den einen Gott. Nach und nach bekehrt sich Halef Omar zum Christentum. Das gleiche passiert mit Winnetou. Der Apachenhäuptling bringt – bei Karl May – aus seiner indianischen Welt den Glauben an einen transzendenten einen Gott mit. „Manitou“ ist im Norden Nordamerikas (vor allem Kanada) ein Name für das allumfassende Geheimnis, das als große Kraft allen Wesen und Dingen innewohnt. Die Nähe zum christlichen Gottesbegriff ist tatsächlich von christlichen Missionaren ins Spiel gebracht worden und hat die Annahme des Christentums vielfach gefördert.
Der Romanheld Winnetou wird durch seinen Freund langsam zum christlichen Glauben geführt. Winnetou stirbt als Christ. Tödlich getroffen nennt der Häuptling seinen letzten Wunsch. Er will das Ave Maria hören, das ihm Old Shatterhand oft vorgesungen hat. Dieses Ave Maria ist ein dreistrophiges Gedicht, das Karl May gedichtet und selbst vertont hat.
Es will das Licht des Tages scheiden;
Nun bricht die stille Nacht herein.
Ach, könnte doch des Herzens Leiden
So, wie der Tag vergangen sein!
Ich leg’ mein Flehen dir zu Füßen;
O, trag’s empor zu Gottes Thron,
Und laß, Madonna, lass dich grüße
Mit des Gebetes frommem Ton:
Ave, ave Maria!
Die Werke des Schriftstellers Karl May sind vor allem in Deutschland millionenfach gelesen worden. Ihre literarische Qualität war immer umstritten. Die Bücher sind spannend geschrieben, man kann sie „verschlingen“. Der Autor hat dort seine Phantasien ausgelebt. Seine Helden sind Übermenschen, die alles können, die die besten Waffen und Pferde haben, jeden Gegner besiegen und jede denkbare moralische Tugend verkörpern.
Ebenso unrealistisch ist eine Marotte Karl Mays: Er lässt im ganzen Wilden Westen seine Landsleute auftauchen. Der weise Indianerfreund Klekih-petra, der lustige Sam Hawkens, die Superhelden Old Firehand, Old Surehand und Old Shatterhand – alles sind Deutsche, vornehmlich Sachsen wie Karl May. Ein Erfolg waren seine Bücher deshalb nur in Deutschland. In den USA ist Winnetou dagegen so gut wie unbekannt, wenn auch in den Karl-May-Filmen der 1960er Jahre Hollywood-Stars auftreten: Lex Barker als Old Shatterhand und Stewart Granger als Old Shurehand.
In den vergangenen Jahren ist es ruhig geworden um Winnetou und Konsorten. Die oft langatmigen Ausführungen wirken heute altertümlich. Kinder zieht es nicht zu diesen Helden – in ihren Computerspielen können sie selbst die Helden sein. Nur in der Generation der Alten finden sich immer noch begeisterte Karl-May-Fans. Diese haben allerdings heute ein Problem, wenn sie Ausdrücke wie „großes Indianer-Ehrenwort“ (Robert Habeck) verwenden oder gar erzählen, sie wären gern Indianerhäuptling geworden (Bettina Jarasch). In der Woke- Bewegung und Cancel-Culture-Bewegung wird jede fiktionale Darstellung von Indianern und das Wort „Indianer“ als moralisch verwerflich betrachtet. Der Ravensburger Verlag hat nach Beschwerden zwei Winnetou-Film-Bücher aus dem Programm genommen. Die ARD zeigt keine Karl-May-Filme mehr. Und das ZDF mahnt seine Facebook-Nutzer, das „I-Wort“ zu vermeiden, also in Facebook- Kommentaren nicht mehr von „Indianer“ zu sprechen.