Auf ein Wort
Ein Befreiungsschlag
Ich bin groß geworden in einer Welt voller Grenzen und Grenzkontrollen. Zöllner waren dabei etwas ganz Selbstverständliches. Man begegnete ihnen aber mit vorsichtigem Respekt. Denn ihre Kontrollen an den Übergängen der Berliner Mauer wirkten oft wie reine Willkür oder scheinbar persönliches Ermessen. Sie waren eben Vertreter eines Systems, das Macht demonstrieren wollte und auch ausübte.
Einmal passierte es mir, dass bei einer Durchsuchung etwas entdeckt wurde, das ich auf keinen Fall dabeihaben durfte. Der Zollbeamte musterte mich eine Weile, lächelte ausnahmsweise kurz und ließ mich passieren ohne Konsequenzen. Es war eine seltene, unerwartete menschliche Geste. Später dachte ich mir, vielleicht tat es ihm ja leid, einen solchen leidigen Job ständig erledigen zu müssen. Wer weiß?
Jedenfalls dürfte Jesus zu seinen Zeiten ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Denn gerade auf die ungeliebten Zöllner ließ er sich immer wieder ein, erklärte sie sogar noch zu Freunden und Tischgenossen. Bei manchen Zeitgenossen stieß das auf deutliche Kritik, denn als Steuereintreiber und Kollaborateure mit einer Besatzungsmacht waren Zöllner allseits verhasst. Nach der Meinung vieler arbeiteten sie in einem Milieu der Sünde, verstrickt in Geldgier, Gewalt und ungerechte Bereicherung.
Nicht nur einmal machte Jesus einem Zöllner deshalb wohl das Angebot zu einem Totalausstieg. Und Matthäus griff überraschend zu! Es war scheinbar ein Befreiungsschlag. Offenbar sehnte er sich längst nach Veränderungen. Denn wie ist es sonst zu erklären, dass er Jesus so unvermittelt folgte?
Harry Karcz, Pfarrer in St. Marien, Berlin