Frank Witzel: "Inniger Schiffbruch"
Eine katholische Kindheit
Frank Witzel hat mit „Inniger Schiffbruch“ ein verstörendes Porträt einer katholischen Kindheit vorgelegt. Der in Wiesbaden-Biebrich aufgewachsene Schriftsteller setzt sich darin als „unfreiwilliger Archivar“ mit seinen von Kriegserlebnissen traumatisierten Eltern auseinander. Von Ruth Lehnen
Sogar die Kirchenzeitung kommt drin vor: Frank Witzel ist ein akribischer Erzähler. Der Buchpreisträger hat mit „Inniger Schiffbruch“ ein verstörendes Porträt einer katholischen Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren vorgelegt. Der Schriftsteller, Musiker und Grafiker ist in Wiesbaden aufgewachsen und lebt heute in Offenbach. In seinem neuen Buch setzt er sich als „unfreiwilliger Archivar“ mit seinen von Kriegserlebnissen traumatisierten Eltern auseinander. Der Vater, Carl Witzel, hatte mehr als 60 Jahre im Dienst des Bistums Limburg gestanden, als Organist und Chorleiter.
Der Sohn, Autor Frank Witzel, misstraut dem realistischen Erzählen und legt seinen Text als Erkundung an, deren Scheitern er zugleich immer miterzählt. Wer sich auf diesen „Schiffbruch“ einlässt, begibt sich in Alpträume, in die Abgründe der Verzweiflung, aber erkennt auch viel nachgetragene Liebe. Witzel ruft mit seinem Text die Gerüche, die Musik, die Dia- und Super-8-Aufnahmen seiner Kindheit wieder hervor. Er ist ein in der Wolle des Katholischen gefärbter Schriftsteller, der dem Glauben seiner Kindheit zu entkommen versucht, und auch in dieser Wahl nicht frei ist. Den Tod begreift er als einen „Schiffbruch“, „dem man sich allein zu stellen hat, während andere ihn vom Ufer aus betrachten“, als den endgültigen Untergang.
Die Bürde des Nachlasses ist der Anlass zum Schreiben
Der Tod seiner Eltern war der Anstoß zu diesem Buch, vor allem aber war es der Nachlass, diese Bürde, die die Vorausgehenden ihren Nachkommen aufzuladen pflegen. Von der Mutter waren kaum Aufzeichnungen zu finden, sie hatte ihre Weigerung, Auskunft zu erteilen über ihr Leben, möglichst konsequent fortgesetzt, indem sie alles Persönliche vernichtet hatte. Vom Vater jedoch waren über Jahrzehnte genauestens in mehreren Ausführungen geführte Kalender erhalten, Bücher, Noten, Fotografien, Dias, Filme. Der ganz normale Wahnsinn der Haushaltsauflösung führt den mit dieser Aufgabe belasteten Erzähler immer wieder in Situationen, in denen die Zeitebenen sich auflösen und er auf einmal nicht mehr weiß, wie alt er wirklich ist. Die Vergangenheit bemächtigt sich seiner und macht aus ihm wieder das Kind, den Jugendlichen, und die Schrecken der Abhängigkeit holen ihn ein.
Beide Eltern hatten im Krieg schlimmste Erlebnisse überstanden, die Familie des Vaters war ausgebombt worden, die Mutter mit nicht mal 15 Jahren „von den Russen verschleppt“ in ein Gefangenenlager. Beide hatten erlebt, dass weder Leib und Leben sicher sind, auch das Zuhause verlierbar ist. Als sie sich im Wiesbaden der 1950er Jahre ihr bürgerliches Leben entwerfen und vom Krieg, seinen Schrecken, der Vertreibung und Gewalt nichts mehr wissen wollen, begleitet sie, so der Sohn, das Erlebte als Verdrängtes weiter und bestimmt sie und ihre Erziehung, ohne dass sie es wissen und wissen wollen.
Frank Witzel ruft die Leserinnen und Leser zu Zeugen auf: Der anerkannte und hochgeschätzte Dirigent und Chorleiter ist in seiner Darstellung ein Vater, der in den Krieg gegen seinen Sohn zieht: Mittägliche Verhöre, drastische Strafen, Androhung von Prügeln, Schläge, die legitimiert werden als väterliches Muss, und am schlimmsten, die immer wiederholte Drohung, der Sohn müsse „weg“, ins Heim. Frank Witzels Beschreibung dieser schwärzesten Pädagogik lassen sein Schreiben als Überlebensprojekt erkennen: Er schreibt das Erlebte und Erlittene auf, um sich zu vergewissern, wie es wirklich war. Und erkennt im Abstand, dass der Vater eine Art Inszenierung aufführte, in der er seine eigenen Traumata am Sohn bearbeitete.
In die Abgründe der schwärzesten Pädagogik blicken
Das abendliche den Koffer-Herauszerren, um den Sohn die Vertreibung und Verstoßung anzudrohen, war ein Ritual, das dem Vater half, die eigene Wut zu kanalisieren und einen Sündenbock für alles zu finden, mit dem er nicht zurechtkam. Witzel schaut hier in die Abgründe der 60er und 70er Jahre „Pädagogik“, die uns das bürgerlich-katholische Haus eines Lehrers (!) als Ort der Gewalt vor Augen führen.
Auch die Mutter hatte ihre eigene Art, die Kinder zu strafen, mit Schweigen. Ihren Sohn nennt sie den „Blutvergießer“. Der Sohn reagiert darauf so: „Die Lehre, die ich aus den unbewusst erstellten Lebenskonstrukten meiner Eltern zog, war relativ klar und bestand in einer recht simplen Umkehrung: Wenn sie sich zuhause wie für die Öffentlichkeit kleideten, würde ich mich in der Öffentlichkeit wie für zuhause anziehen, wenn sie eine starre Einteilung der Zimmer ihrer Wohnung vornahmen, würde ich diese auflösen, wenn sie an Gott glaubten, würde ich ihn leugnen, wenn sie heirateten, würde ich bindungslos bleiben… es war ein pubertäres, reflexhaftes und nie bewusst durchdachtes Verfahren, mit dem ich dem aus dem Weg gehen wollte, was ich am Leben meiner Eltern als falsch erkannt hatte… Ich hatte kein eigenes Leben entworfen…“ Witzel bezeichnet diese Reaktion als „Vernichtungsformel“.
Mehr als „der Rollentext des bedauernswerten Knäbleins“
Sein Buch ist zugleich die Beschreibung dieser Vernichtungsformel und die Auflehnung dagegen. Dabei schwankt der Autor, so wie jemand, der in so schwere Wasser geraten ist, schwanken muss. Zwischen Hass und Liebe. Zwischen Andenken und Vergessenwollen. Unvermutet kommt auf einmal „Der Sonntag“ vor, auf Seite 285. Es klingt verletzt, wenn es heißt, dass nicht einmal die Bistumszeitung nach seinem Tode den Vater gewürdigt habe, der mehr als 60 Jahre seines Lebens der Kirchenmusik gewidmet und im Dienst des Bistums gestanden hatte.
Witzel entdeckt während des Schreibens auch „seine Rolle in dem Ganzen“. Als Kind war er passiv ausgeliefert, jetzt aber ist er aktiv handelnd. Dabei wächst er weit darüber hinaus, tut weit mehr, als nur, wie er es ironisiert, „immer weiter seinen alten Rollentext des bedauernswerten Knäbleins aufzusagen“. Denn Frank Witzel ist nicht völlig gleichzusetzen mit dem in Verwirrung und Ängste gestürzten Erzähler. Er ist immer auch der Autor, der seinen Stoff formt. Und so hat er, zum Beispiel mit den Schilderungen aus dem Pflegeheim, seinen Eltern ein Denkmal gesetzt. Er hat sie und die Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden, und die sie zugefügt haben, in ein größeres Ganzes überschrieben.
So wie er ihrem Nachlass im Keller seines eigenen Hauses Platz einräumt und jede von ihnen gesammelte Briefmarke wertschätzt, so erscheint in diesem Buch nach allen Entblößungen ein Bild des Autors als liebender Sohn.
Frank Witzel: Inniger Schiffbruch, Matthes und Seitz, 360 Seiten, 25 Euro