Holocaust: Erinnerungskultur
,,Eine neue Erinnerungskultur"
Foto: imago/Jörg Schimmel
Katharina Müller-Spirawski ist Mitgründerin des Zweitzeugen e.V. Lange dachte sie, dass Judenhass in Deutschland nicht mehr zunimmt. Im Interview erzählt sie, wie sie antisemitische und rassistische Tendenzen in Schulen beobachtet.
Menschen sollen zu Zweitzeuginnen und Zweitzeugen für Überlebende des Holocaust werden. Warum finden Sie das wichtig?
Weil ich so viele Zeitzeugen getroffen habe und gespürt habe, wie wichtig das ihnen war. Manche von ihnen sind morgens schwerkrank in die Schule gekommen, um ihre Geschichte zu erzählen. In so ziemlich jedem Interview, das ich mit Zeitzeugen geführt habe, habe ich deren Wunsch gespürt, dass die Geschichte weitererzählt wird.
Können Zweitzeugen die Treffen mit Zeitzeugen ersetzen?
Nein. Wenn man heute noch mit einem Zeitzeugen sprechen kann, sollte man das auf jeden Fall tun. Aber wir können versuchen, eine neue Erinnerungskultur aufzubauen für die Zeit, in der es keine Zeitzeugen mehr gibt.
Wie nehmen Sie den Wissensstand an den Schulen zum Thema Holocaust wahr?
Unsere Workshops finden zum großen Teil in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen statt. Wie viel Vorwissen vorhanden ist, hängt davon ab, ob es in einer Stadt eine gute Gedenkarbeit gibt, ob zum Beispiel Stolpersteine präsent sind. Je älter die Kinder sind, desto mehr haben sie in der Schule schon gehört. Ich würde schon sagen, dass ein großes Interesse besteht.
Der Zweitzeugen e.V. erzählt die Geschichte von Überlebenden des Holocaust. Doch inwieweit nehmen Sie heutzutage an den Schulen Antisemitismus wahr?
In der Anfangszeit nach dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel am 7. Oktober ist es mehr geworden. Es war entfesselter. Bei manchen Jugendlichen merkte man eine große Desinformation. Sie sehen in den sozialen Medien Sachen, die sie gar nicht einordnen können, zum Teil auch Falschinformationen.
Wie gehen Sie in den Workshopsdamit um?
Was wir machen können, ist, die Abfolge der Ereignisse noch mal zu klären und zu fragen: Wisst ihr, dass es einen Terroranschlag der Hamas in Israel gab? Das haben einige Jugendliche oft nur halb gehört, verdrängt oder wollen es nicht wissen.
Nehmen Sie auch unterschiedliche antisemitische Richtungen wahr, also rechtsradikalen Antisemitismus oder linksradikalen oder muslimischen?
Muslimische Jugendliche sind teilweise von Medien aus dem Nahen Osten beeinflusst. Die hören die andere Seite schon gar nicht zu Hause und haben sich oft auch nicht mit den Fakten über Israel auseinandergesetzt. Rechtsradikaler Antisemitismus ist sicherlich vorhanden, für uns aber kaum wahrnehmbar, denn diese Schüler äußern sich nicht. Sie wissen sehr genau, wie man angepasst in der Schulklasse wirkt und dann aber die AfD und rechte Gruppen unterstützt. Was wir wahrnehmen, ist, dass Schülerinnen und Schüler, die noch keine extreme politische Richtung kennen, sich häufiger trauen, Sachen nachzuplappern wie, man dürfe nichts mehr gegen Israel sagen.
Wie versuchen Sie darauf zu reagieren?
Zum einen, indem wir Antisemitismus nicht zulassen. Der Workshop muss auch ein Schutzraum bleiben, denn wir wissen nicht, ob es jüdische Schülerinnen und Schüler in der Klasse gibt. Zum anderen: Wenn wir merken, da sind jetzt wirklich ganz viel Falschinformationen vorhanden, dann versuchen wir, so kurz, wie es irgendwie geht, den Israel-Palästina-Konflikt geschichtlich noch mal zu erzählen und zu sagen: „So ist das heute. Ihr hört, da sind zwei Seiten beteiligt.“ Was wir aber auch vor dem 7. Oktober wahrgenommen haben, ist eine ganz große Anteilnahme.
Inwiefern?
Vor allem die Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte kennen häufig Dinge, die wir so gar nicht nachfühlen können. Einmal kam ein Mädchen und hat sich bedankt, dass ich die Geschichte eines Überlebenden auf einem Todesmarsch erzählt habe. Sie hatte bei ihrer Flucht aus Syrien auch tote Menschen an der Straße gesehen und erzählt, wie sie alle nicht mehr laufen konnten. Ich glaube, dass da gerade bei Kindern mit eigener Migrationsgeschichte eine andere Art von Mitfühlen da ist.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie wahrnehmen, wie Rassismus und Antisemitismus heute in Deutschland zunehmen?
Ich habe lange gedacht, dass das nicht noch einmal passieren kann. Doch jüdische Freundinnen erzählten mir immer wieder, dass sie beispielsweise ihre jüdischen Gegenstände wegräumen, wenn fremde Menschen bei ihnen zu Besuch sind. Sie wollen nicht, dass jemand weiß, dass die Frau in dieser Wohnung jüdisch ist. Persönlich macht mir das große Angst. Als Verein wollen wir dazu beitragen, dass es weniger Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft gibt.