Kapuziner Paulus Terwitte erklärt den Familienbegriff von Jesus

Familie über alles?

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Familienidylle. Foto: IMAGO/Viktoryia Verstak
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Idylle pur: Die ganze Familie kommt zum Feiern zusammen. Da geht nichts drüber – oder doch?

Immer wieder relativiert Jesus die Familie – auch im Sonntagsevangelium. Der Kapuziner Paulus Terwitte sagt: Das sind verstörende Worte, aber auch eine wichtige Kritik an allzu bürgerlichen Familienbildern.

Es ist eine Provokation, die Jesus im Sonntagsevangelium seinen Zuhörerinnen und Zuhörern entgegenschleudert: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.“ 

Was ist das für ein Vergleich? Was soll es, die Liebe zu Gott und Jesus gegen die Liebe zur eigenen Familie aufzurechnen? Noch schlimmer wird es, wenn man auch die zwei Verse vor dieser Stelle des Matthäusevangeliums liest. „Ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter“, heißt es da. Jesus als Zerstörer der Familie? 

„Natürlich sind das Sätze, die verstören“, sagt der Kapuzinerpater Bruder Paulus Terwitte. „Zu Recht lieben wir Vater und Mutter und unsere Familienmitglieder.“ Doch Bruder Paulus sieht in diesen Sätzen vor allem eine wichtige Kritik an einer allzu bürgerlichen Vorstellung von Familie. „So denken manche, katholisch sei, man müsse alles tun, was die Eltern sagen. Und umgekehrt meinen Eltern, dass sie immer für ihre Kinder da sein müssten.“ 

Nähe schafft Verletzbarkeit

Jesu Worte dienten aber dazu, ein solches „Alles-oder-Nichts-Denken“ zu hinterfragen und sich von falschen Idealen zu verabschieden. „Es geht darum, das Liebesgebot Jesu ausgewogen zu gestalten.“ Dieses Dreieck aus Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe. Und davon ist die Familie eben auch nur ein Teil.

Der Kapuziner kann sich über belastende Familiensituationen richtig in Rage reden. Schließlich liegen dort große Konfliktpotenziale, eben weil man sich so nahe ist. Da helfe es wenig, wenn man im „Alles-oder-Nichts-Denken“ gefangen sei. 

Nähe schafft Verletzbarkeit. „In vielen Dingen denken Eltern und Kinder nicht emanzipiert genug“, sagt Bruder Paulus. „Sie bleiben im alten Muster stecken.“ Wenn etwa Eltern meinen, in ihrem großen Haus wohnen bleiben zu müssen, um ein-, zweimal im Jahr die Kinder für wenige Tage aufnehmen zu können. Wenn sie meinen, für einen Neuanfang an anderem Ort im Alter den Besitz nicht verkaufen zu dürfen, um ihn für die Kinder zu bewahren. Wenn erwachsene Kinder mehr mit den Eltern reden als mit ihrem Ehepartner oder an Weihnachten „nach Hause fahren, als hätten sie kein eigenes, in das sie die Eltern einladen könnten“. 

Religion bietet Konfliktpotenzial

Jesus, meint Bruder Paulus, sagt die Sätze dieses Sonntagsevangeliums wütend und zugespitzt, weil er damit seine Jünger wachrütteln will. Wachrütteln, damit sie ihre Prioritäten zurechtrücken. Zum Beispiel, wenn es um die Bedeutung der Religion geht. Da kann sich ein Familienkonflikt an ganz banalen Entscheidungen entzünden. Da sagt der Sohn plötzlich: „Ich will sonntags den Gottesdienst besuchen, weil ich eine Quelle für mein Leben brauche. Und dieser Gottesdienst ist mir wichtiger als der Familienbrunch.“ Paulus Terwitte sagt: „Es gibt religiöse Entscheidungen, die Menschen treffen müssen und durch die sie auch ihre engsten Angehörigen verletzen. Das kann ein Kirchenaustritt sein. Aber auch ein Kircheneintritt.“

Auch bei Menschen, die sich für den Weg ins Kloster entscheiden, kennt man das, etwa, wenn sie dadurch die Erwartungen ihrer Eltern enttäuschen: keine Übernahme der elterlichen Firma, keine Enkelkinder. Der Kapuziner verweist auf die Heiligen. Er sagt, der heilige Franziskus habe sich nie mehr mit seinem Vater versöhnt. Er habe sich entschieden: „Von jetzt an sage ich nicht mehr Vater Pietro Bernardone, sondern Vater unser im Himmel.“ Oder Mutter Teresa: Sie verließ ihren ursprünglichen Orden und ihre Mitschwestern in Albanien, um in Indien den Armen zu dienen. Auch davon werden nicht alle begeistert gewesen sein.

Kein Aufruf zur Revolution

Doch die Gottesliebe zeigt sich für Bruder Paulus nicht nur an geistlichen Entscheidungen im engeren Sinne, sondern in vermeintlich irdischen Dingen. Ihm geht es um die Liebe zur Wahrheit – also darum, der Wahrheit statt einem vermeintlichen Ideal zu folgen, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. 

Das kann zum Beispiel heißen, rechtzeitig einen Plan für das Leben im Alter zu machen, um die Kinder damit später nicht zu überfordern. Oder aus dem gro-ßen Haus in eine kleinere Wohnung zu ziehen, „um das Haus dann an geflüchtete Menschen zu vermieten – stellen Sie sich das vor!“ Oder es kann heißen, dass der junge Mann endlich das verhasste Jurastudium abbricht, das er nur aufgenommen hat, um die Erwartungen der Eltern zu erfüllen. „Das kann auch damit gemeint sein, Gott mehr als die Eltern zu lieben.“ 

Doch wie kommt man zur richtigen Entscheidung? „Die Kriterien dafür findet man am besten im gemeinsamen Gespräch heraus“, sagt Bruder Paulus. Dabei seien Fragen wichtig wie: „Wird die Freiheit der Beteiligten gewahrt? Dient meine Entscheidung dem Miteinander, der Gesellschaft? Oder denke ich egoistisch?“ 

Wenn man so mit sich gerungen hat, kann auch die Entscheidung richtig sein, die betagten Eltern im Pflegeheim unterzubringen, „die ja zunächst mal als moralisch fragwürdig beurteilt wird. Wenn es nämlich nicht um die eigene Bequemlichkeit geht, damit ich schön weiter meinen Bedürfnissen nachgehen kann“. Sondern darum, dass „ich zum Beispiel sage, ich kann dann die Verpflichtungen nicht erfüllen, die ich gegenüber der Familie habe, die ich gegründet habe“. 

Bruder Paulus betont: „Ich mag diese Bibelstellen wirklich sehr.“ Und jene, die die Stellen allzu aufrüttelnd finden, beruhigt er: „Das ist kein Aufruf, hier ständig irgendeine Revolution zu starten, sondern sich zu hinterfragen, ob die eigenen Kriterien und Prioritäten im Leben stimmen.“ Heißt auch: Eine gesunde Liebe zwischen Eltern und Kindern, die Freiräume und Selbstständigkeit lässt, die Abnabelung zulässt, ist keine Konkurrenz zur Gottesliebe – sondern erwächst aus ihr.

Ulrich Waschki