Fast eine Art von Gemeinde
Foto: Andreas Hüser
„Es ist nur ein kleiner Tropfen.“ Seit Eberhard Guttmann Pfarrer im Ruhestand ist, lebt er in einem ruhigen kleinen Haus in Geest-
hacht. Sonntags am Altar stehen, kann der 83-Jährige nicht mehr. Trotzdem hat er eine wachsende Gemeinde – Menschen, die miteinander Gedanken teilen und miteinander beten, verbunden durch einen monatlichen „Brief an Freunde“.
Der Rundbrief ist eine Frucht der Coronazeit. „Ich merkte: Viele Menschen sind ganz einfach vereinsamt“, sagt Eberhard Guttmann. Und er wusste dabei auch: Diese Einsamkeit liegt nicht nur an den Abstandsregeln der Pandemie. „Es gibt eine Einsamkeit der Suchenden, Fragenden, die der jungen Familien, der Menschen, die nach dem Sinn ihres Lebens suchen. Es ist eine Traurigkeit da bei vielen. Die können wir nicht auffangen, wenn wir sagen: Kommt sonntags um zehn zur Messe, da wird eure Sehnsucht gestillt.“ In den Jahrzehnten als Seelsorger hat Eberhard Guttmann viele Menschen getroffen – auch die vielen Unsicheren, Suchenden und Fragenden. „Aber wir Priester haben vor allem eine Eucharistiegemeinde um uns geschart und nicht die, die nach dem Sinn und einem Halt in ihrem Leben fragen. Mein Anliegen ist, solche Menschen nicht allein zu lassen.“
Das sagt Eberhard Guttmann heute, da sein monatlicher Brief an mehr als 200 Adressaten geht. Am Anfang hat er nur einem kleinen Kreis von etwa 20 Freunden geschrieben: Leuten aus seinen Gemeinden in Kronshagen, Schleswig und Hamburg-Lohbrügge; Teilnehmern von Reisen nach Lourdes, Finnland, Ägypten. „Da sind Kontakte geblieben, sie sind im Laufe der Jahre noch intensiver geworden. Später kamen andere dazu, die von dem Brief gehört haben.“
Dieser Brief besteht aus einem Text zum Nachdenken über ein bestimmtes Thema, das er sich selbst wählt. Im Septemberbrief ist der Erntedank das Thema. Man findet dort keine akademische Abhandlung, keine Predigt. „Jeder Mensch ist wie Ackerboden. Entfalte, was in dir angelegt ist!“ Es geht um die Ernte jedes Tages, die Ernte der Woche und den Erntedank des Sonntags – die Ernte eines Lebens.
In jedem Menschen ist etwas angelegt wie in einem Acker. Eberhard Guttmann führt diesen Gedanken weiter. „Aber es muss vielen auch geholfen werden, diese Anlage zu entfalten. Viele stolpern über ihr Leben, weil sie sich ihrer Einzigartigkeit nicht bewusst sind.“
Einmal am Tag gemeinsam innehalten
Nach diesem geistlichen Text gibt Guttmann Hinweise auf besondere Tage des Monats. Nicht nur auf kirchliche Feste (Kreuzerhöhung), sondern auch auf den Weltkindertag und die Tag-und-Nacht-Gleiche. Der Brief endet mit einem Schlusswort und einem Gruß.
Jemand schreibt, andere lesen. Das ist aber noch nicht alles. „Mir ist es wichtig, dass wir auch eine Gebetsgemeinschaft sind“, sagt Eberhard Guttmann. Jeden mittag um 12 Uhr sollen sich die Brieffreunde einen Moment der Stille nehmen. Innehalten, das tägliche Geschäft unterbrechen, zur Ruhe kommen, vielleicht ein Gebet sprechen.
Angesicht in Angesicht sehen sich die 200 Empfänger des Briefes nie. Reizt es den Autor nicht, seine Gemeinde einmal leibhaftig zu versammeln? „Dann müsste ich von Kiel nach Freiburg, nach Kolumbien und in die USA fahren. Das schaffe ich nicht. Und außerdem möchte ich lieber ganz unauffällig begleiten.“
Die Briefgemeinde lebt nicht nur an verschiedenen Orten, die Briefempfänger gehören zu verschiedenen sozialen Schichten, von ganz „oben“ bis ganz „unten“. Sie wissen zumeist nichts voneinander – nur der Brief verbindet sie. Auf der anderen Seite gehört der Ruheständler Guttmann zu den überzeugten Freunden der Begegnung. Er hält den Kontakt mit seinen Nachbarn. Und auch dort hat er einige Empfänger seines Rundbriefes geworben. Wie ging das? „Ich hab‘ ihnen den Brief einfach in den Briefkasten gesteckt!“
Seine Nachbarschaft, das ist eine friedliche Straße am Geesthachter Düneberg, eine alte Arbeitersiedlung der Pulverfabrik mit freundlichen Backstein-Doppelhäusern, vor denen die letzten Blüten des Sommers wuchern. Ein Ort, um Ruhe zu finden, oder um Ruhe auszustrahlen. In dieser Umgebung schreibt Eberhard Guttmann seine Briefe. Er nimmt sich Zeit. „Ich arbeite daran wie ein Maler. Zuerst ist eine Idee da, einige Striche. Dann entfaltet sich dieser Gedanke. Peu à peu. Früher, bei Predigten, ging das nicht. Jetzt habe ich die Zeit dazu.“