Ein Grenzbesuch 35 Jahre nach dem Mauerfall

„Halt, hier Zonengrenze!“

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Junge steht am ehemaligen Grenzzaun
Nachweis

Foto: Andreas Hüser

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Die innerdeutsche Grenze im Jahr 2024: In Schlagsdorf, einem Grenzdorf zwischen Rehna und Ratzeburg, kann man ein Stück „Schutzstreifen“ noch sehen – und gefahrlos begehen.

Am 9. November 1989 wurde die Grenze zwischen den deutschen Staaten passierbar. Das ist lange her. Heute sieht man von dieser Grenze und ihren Anlagen nichts mehr. Außer in einem Dorf am Rande von Mecklenburg.

Man sah es staunend in den Abendnachrichten am 9. November 1989: ZK-Sekretär Günter Schabowski verkündete ziemlich unvorbereitet das Unmögliche,die Öffnung der Berliner Grenze: „…nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Die Mauer war gefallen. Berlin feierte die ganze Nacht.

Die Mauer? Was war das? Wer jünger als 35 Jahre ist, hat diese Grenze nicht erlebt. Es ist schwer, jungen Menschen diese Grenze zu beschreiben. Besser ist es, sie an Ort und Stelle anzusehen. Am „Grenzhus“ in Schlagsdorf in Mecklenburg geht das. Dort steht die Grenze noch: mit Wachturm, Zaun und Stacheldraht, Beobachtungsbunkern, Alarmanlagen, Panzersperren, und einem sauber geharkten Streifen, der jeden Fußtritt verrät. Die mit Originalteilen rekon-struierte Grenzanlage liegt am Dorfrand. Der nahegelegene Mechower See trennte einmal zwei Machtblöcke, zwei Systeme – heute aber nur noch zwei Bundesländer. Das Grenzhus selbst ist ein multimediales Museum. Es zeigt auf drei Etagen viele Aspekte dieser Grenze: warum sie gebaut wurde, wie sie funktionierte und wie sie verschwand. Auf einem Bildschirm sieht und hört man Walter Ulbricht: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“ Man sieht eine junge Frau, die sich in einen Trabi-Kofferraum zwängt. Ihr Freund aus dem Nachbardorf hat sie so ins Sperrgebiet geschmuggelt. Dann ein Video vom Herbst 1989: Strahlende Menschen strecken ihre Pässe wie Siegerurkunden aus dem Wartburgfenster. Sie werden gleich ihre Tante in Kiel besuchen. Einfach so. Unglaublich.

Wer die Macht hat, will über Menschen bestimmen

10 000 Gäste aus aller Welt besuchen jährlich das Informationszentrum. Das Grenzhus hat ein großes Programm mit Veranstaltungen, Autorenlesungen, geführten Wanderungen. Der Leiter des Museums, An-dreas Wagner, erforscht mit seinem Team die Geschichte und die Nachwirkungen der Grenze. Ein großes Gewicht hat die pädagogische Arbeit. Ein Fünftel der Besucher sind Schüler mit ihren Klassen.

Andreas Wagner erläutert an einer Karte die Grenzanlagen von Schlagsdorf. Foto: Andreas Hüser

„Warst du schon mal an einem Grenzübergang?“ fragt Andreas Wagner den zehnjährigen Johannes, der heute das Museum ansehen will. Nein. Johannes kennt keine Grenzen. In alle Länder, in denen er war, konnte man ohne Kontrolle hineinfahren. 

Von der DDR-Grenze hat er aber schon Einiges gehört. „Da ist jemand mit dem Flugzeug ‘rübergeflogen.“ Der Museumschef nickt. Viele haben auf abenteuerliche Weise versucht, in den Westen zu fliehen. Mit Booten, Leitern, präparierten Autos. „Einige sind auch einfach so losgegangen, ahnungslos.“ Das konnte nicht gut gehen. Die Befestigungen, die Beobachtungsposten waren ein ausgeklügeltes System. 500 Meter breit war der „Schutzstreifen“ vor der Staatsgrenze, fünf Kilometer tief das „Sperrgebiet“, in das auch kein DDR-Bürger ohne Sondergenehmigung hinein durfte.

„Warum durften die Leute denn nicht rüber?“, fragt Johannes. Andreas Wagner: „Es waren so viele, die aus der DDR weggehen wollten, dass die Regierung Angst hatte – bald ist in unserem Land keiner mehr, der arbeitet.“ Und: „Oft ist es so: Wer die Macht hat, will bestimmen, was die Menschen machen und wohin sie gehen dürfen.“

Und nun stellt der Museumschef eine Frage an Johannes: „Was meinst du, was hätte die Regierung denn tun können, damit die Menschen nicht fort wollen?“ Dem Jungen fällt nicht sofort etwas ein. Der Vater springt ein. „Sie hätten gute Lebensbedingungen schaffen können, so dass die Leute gern im Land geblieben wären.“ Wagner nickt. „Aber weil sie das nicht verstanden haben, mussten sie immer höhere Zäune und immer mehr Befestigungsanlagen bauen.“ 

Viele Grenzen und Mauern stehen noch immer

Und wie, fragt der Schüler, wurde die riesigen Grenzanlagen dann abgebaut? Wohin ist das alles gekommen? An vielen Stellen in der Nähe der Grenze, sagt Andreas Wagner, sieht man noch Teile des Zauns, die heute als Gartenzaun oder Werksgitter verwendet werden. „Es hat fünf Jahre gedauert, um alle Minen zu beseitigen. Die meisten wurden von NVA-Soldaten selber gesprengt.“

Die innerdeutsche Grenze ist seit 35 Jahren Geschichte. Aber es gibt noch andere Grenzen. Auch über sie informiert das Grenzhus und fragt die Besucher nach ihrer Meinung. Sogar die „eigenen Grenzen“ sind hier ein Thema. Die Meinungen dazu werden auch im Grenzmuseum dokumentiert. Viele Ansichten und Erfahrungen kommen da zusammen. Eine Jugendliche etwa, die man auf einem Monitor sieht, zitiert einen Satz aus der Bibel (Psalm 18,30): „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“ 

Andreas Hüser

Das Grenzhus Schlagsdorf ist täglich von 19 bis 16 Uhr geöffnet.