Heute hier, morgen dort
Foto: privat
„Mit Gunst und Verlaub“ lautet der erste Vers des Gedichts. Johanna Röh trägt es vor, wenn sie als Tischlerin auf der Walz zum Beispiel um einen Schlafplatz bittet. Mehr darf sie nicht verraten, denn das ganze Gedicht dürfen Wandergesellen niemals einfach so vortragen, sondern nur, wenn sie wirklich auf Wanderschaft sind. Das ist eine der vielen Regeln und Richtlinien, die Handwerker befolgen sollen, wenn sie nach ihrer Ausbildung einer jahrhundertealten Tradition folgen. Im Mittelalter sollten vor allem diejenigen losziehen, die Meister ihres Handwerks werden wollten. Um sich neues Wissen anzueignen. Sie reisten zum Beispiel zu großen Dombaustellen, wo sich alle Baugewerke, von Steinmetzen bis Zimmermännern, trafen und Arbeitstechniken austauschten.
Zum Heimatort 50 Kilometer Abstand halten
„Auf der Wanderschaft geht es darum, sich einerseits im Handwerk, andererseits persönlich weiterzuentwickeln“, sagt Johanna Röh. „Würde ich immer Zug fahren und Hotels buchen, müsste ich mich mit niemandem unterhalten, sondern würde auf mein Handy gucken, das mir sagt, wo ich halten muss. Aber das ist langweilig und erweitert den Horizont nicht.“
Stattdessen trampen Wandergesellen, „oder man fragt mal bei der Schaffnerin oder beim Busfahrer, ob man mitfahren darf“, sagt Röh. Denn eine Regel lautet: Gib kein Geld zur Fortbewegung aus, wenn du den Weg auch zu Fuß gehen könntest. Dass Johanna Röh später verschiedene Kontinente bereist, ist nur dank einer Ausnahme möglich: Für Wege, die sie nicht zu Fuß zurücklegen kann, weil sie übers Meer führen, darf sie ins Flugzeug steigen.
Während der Walz müssen die Reisenden Abstand zum Heimatort halten – um die 50 Kilometer. Dieser Bereich heißt Bannmeile. Die ersten zwei Monate ist Röh mit einer Tischlerin unterwegs, die schon seit zwei Jahren auf Wanderschaft ist. Die Gesellin erklärt ihr, wie das Leben auf Wanderschaft funktioniert. Neben der Arbeit müssen sie auch eine möglichst günstige Unterkunft finden. Meist findet Röh ihren Schlafplatz bei einem der Tischler, mit denen sie gearbeitet hat, wird zu anderen gastfreundlichen Menschen im Ort verwiesen oder schläft auf ihrer Isomatte in der Werkstatt. Um sich zu revanchieren, baut Röh ein Möbelstück für ihre Gastfamilie oder hilft im Haushalt. Lebensmittel bezahlt sie von dem Geld, das sie verdient oder angespart hat.
Insofern sie noch Gespartes hat. „Es gibt immer Situationen, in denen man es nicht schafft, Verbindungen zu Leuten aufzubauen oder eine Arbeit zu finden, und das Geld geht aus“, erzählt Röh. Dann hilft es ihr, sich an all die guten Erfahrungen zu erinnern, die sie schon gemacht hat. „Da sind so coole Menschen überall. Man kann überall Freundschaften schließen, und nur, weil man eine Durststrecke hat, heißt es nicht, dass es so bleibt.“
Als sie zum Beispiel mit dem Fahrrad durch Nordamerika fährt und in Kanada ankommt, findet sie zunächst keine Arbeit. Sie hat kaum noch Geld und keine feste Unterkunft. Irgendwann spricht eine deutsche Frau, die mit ihrer Familie in Kanada lebt, sie auf der Straße an und nimmt sie auf. Dass Menschen von sich aus auf sie zukommen und Hilfe anbieten, hat Röh oft erlebt. „Das ist das Praktische, wenn Leute die Wanderschaft kennen“, sagt sie. Als Wandergesellin trägt sie Kordhose, Hemd, Weste, Hut und auf dem Rücken ein Stoffbündel.
Unter den Wandergesellen gibt es Freireisende und Wanderer, die in Vereinigungen, sogenannten Schächten, unterwegs sind. Die Mitglieder der Schächte treffen sich in der Zeit ihrer Wanderschaft und tragen ein Erkennungszeichen, etwa ein farbiges Tuch, bei sich. So einem Schacht gehört Röh nicht an, denn viele dieser Vereinigungen namens „Die Rolandsbrüder“ oder „Fremder Freiheitsschacht“ nehmen keine Frauen auf. Dennoch hat sie den Ehrgeiz, die „zünftigen Regeln“ zu befolgen. Als sie zum Beispiel wegen eines Todesfalls in ihrer Familie ausnahmsweise nach Hause zur Beerdigung fährt, trampt sie wieder, anstatt sich in den Zug zu setzen.
In Japan „vergreift man sich eigentlich immer im Ton“
Auch in den Werkstätten muss Röh sich als Frau mehrfach beweisen, bevor sie eingestellt wird. „In Kanada hat man mir nicht zugetraut, schwere Gegenstände zu tragen, in Neuseeland hat man mir nicht zugetraut, komplexe Möbel zu bauen und in Japan war es eher so, dass sie mir nicht zugetraut haben, dass ich es durchhalte, längere Zeit bei ihnen zu arbeiten.“ Am Ende stellt sich immer heraus, dass sie ihr Handwerk genauso gut beherrscht wie die männlichen Tischler.
Um in einem fremden Land wirklich anzukommen und zu einer Gruppe zu gehören, hilft es Röh, sich so gut wie möglich an das Leben vor Ort anzupassen. Ohne Handy oder andere Ablenkungen hat sie auch gar keine andere Wahl. In Japan fängt sie an, so schnell wie möglich Japanisch zu lernen, denn die wenigsten Menschen, die sie trifft, sprechen Englisch. Grundsätzlich sei es ihr einigermaßen leicht gefallen, die Sprache zu lernen, aber „man vergreift sich eigentlich immer im Ton“, sagt sie. Denn es gibt viele Höflichkeitsformeln, und kaum jemand sagt direkt, was er will. Dass sie gelernt hat, nicht nur über die Sprache zu kommunizieren und immer aufmerksam zu sein, hilft Johanna Röh auch heute als selbstständige Tischlermeisterin. „Ich habe für mich eine viel größere innere Sicherheit, dass alles funktioniert. Ich glaube, ich kann sehr gut erspüren, was Kundinnen und Kunden für ihre Möbel brauchen.“
In Japan ist es wichtig, sich in die Gruppe einzufügen und nicht herauszustechen. Es gibt zum Beispiel kein arbeitsfreies Wochenende. „Ich habe das einfach mitgemacht. Für mich war es super spannend, aber ich wusste auch, dass es von mir verlangt wird.“ Sie weiß: Wenn sie in der Tischlerei mitarbeiten darf, einen Schlafplatz bekommt und trotzdem auf zwei freie Tagen besteht, würde sie nicht so lange toleriert.
Nach vier Jahren auf Reisen wieder sesshaft zu werden, sei ein langer Prozess gewesen, sagt Röh. Viele Wandergesellen haben das Gefühl, dass sie weiterziehen müssen, es fällt ihnen schwer, sich an einem Ort zu entspannen, langfristig zu planen oder Beziehungen einzugehen.
Johanna Röh ist das gelungen. Sie ist heute Anfang 30 und lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Alfhausen im Landkreis Osnabrück. Das Leben auf Wanderschaft hat sie schon lange aufgegeben, und sie liebt es, „eine Homebase zu haben“. Trotzdem genießt sie es, viel unterwegs zu sein, denn sie hat eine politische Initiative mit dem Namen „Mutterschutz für alle“ gegründet. „Ich finde es total krass, dass ich so viel Energie aufgebracht habe, um so vieles zu lernen und meinen Betrieb aufzubauen – und dann fahre ich den Betrieb fast an die Wand, weil ich schwanger werde.“
Vorträge bei Landfrauen und in Kolpingsfamilien
Die politische Initiative setzt sich dafür ein, dass selbstständige Frauen auch eine Form von Mutterschutz in Anspruch nehmen können. Als angestellte Tischlerin hätte sie gleich zu Beginn ihrer Schwangerschaft ein Beschäftigungsverbot bekommen. Als Selbstständige musste sie selbst schauen, wie sie den Betrieb während ihrer Schwangerschaft aufrecht erhalten konnte.
In diesem Monat ist Johanna Röh zum Beispiel als Sachverständige im Familienausschuss des Bundestages eingeladen. Und auch durch die Geschichte ihrer Wanderschaft kommt sie herum. Sie hält zum Beispiel Vorträge bei den katholischen Landfrauen oder in Kolpingsfamilien. Sie beobachtet, dass sich besonders ältere Frauen sehr für ihre Geschichten interessieren und viele Fragen stellen. „Und wenn die dann mit einem weniger vorgefertigten Bild davon, was ihre Enkelinnen machen sollen, nach Hause gehen, ist das megacool.“
Kontakt zu Johanna Röh: www.johanna-roeh.de