Ihr Lebensjob ist Sternenkindbestatterin

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Sie ist da, wenn Eltern ihre schwersten Stunden erleben. Helga Schmidtke ist Sternenkindbestatterin. Sie begleitet Familien, die ein Kind verlieren. Bis zum Grab. Sie möchte Verständnis schaffen für trauernde Menschen, deren Kind für andere nicht einmal existiert hat. Von Sarah Seifen.

Immer mehr Eltern kommen zu Helga Schmidtke, weil ihr Kind sterben wird oder bereits tot ist. „Wie das ist, ein totes Kind im Bauch zu tragen, das kann man sich nicht vorstellen“, sagt die Sternenkindbestatterin. In ihren Augen sammeln sich Tränen.

Eine farbenfrohe und persönliche Erinnerung: Diesen Kindersarg hat Helga Schmidtke im ersten Ausbildungskurs des Sternenkinderzentrums gestaltet. Foto: Sarah Seifen
Eine farbenfrohe und persönliche Erinnerung:
Diesen Kindersarg hat Helga Schmidtke im
ersten Ausbildungskurs des Sternenkinderzentrums
gestaltet. Foto: Sarah Seifen

Helga Schmidtke sitzt am großen Tisch in ihrer Teeküche in Reinheim. Hier, in den Räumen der Sternenkindbestatterin, empfängt sie trauernde Familien, hier treffen sich Trauergruppen des Vereins „Sternenkinderzentrum Odenwald“. Die Möbel, Tassen, Sitzkissen, alles ist weiß und grau. Die kupferroten Locken der 46-Jährigen stechen heraus. Genau wie ihre aufgeweckte, ansteckend fröhliche Art inmitten des traurigen Themas: In ihrem Alltag geht es um den Tod.

Nur selten wird Helga Schmidtke still, dann nämlich, wenn es um einzelne Kinder geht. Dann, wenn sie ihren Namen ausspricht. „Dann sitze ich oft da und heule. Dann stehe ich demütig vor meiner Arbeit.“ Wenn sie von ihrem Beruf erzählt, stellen sich alle Härchen am Körper auf. Gänsehaut breitet sich aus. „In diesen Räumen muss jeder zwangsläufig seine Professionalität ablegen. Hier geht es um Essentielles“, sagt sie.

Ein Sternenkindpapa zu Besuch

Die Treppe, die hinauf in die Räume des Sternenkinderzentrums führt, knarzt. „Hallo?“ ruft jemand aus dem Flur. Herein kommt ein Mann, Mitte 30 vielleicht. „Ein Sternenkindpapa“, sagt Helga Schmidtke. Ihre Stimme wird sanft. Der Mann setzt sich mit an den Tisch. „Wie geht’s dir?“, fragt sie. „Heute wäre der Geburtstermin gewesen“, erzählt er. Am Anfang sei es für ihn nicht leicht gewesen, über seine tote Tochter zu sprechen. Aber Helga Schmidtke fordert in ihren Begleitungsgesprächen: „Wir basteln keine Engelchen bei den Terminen. Die Leute müssen ran, die Trauer mit all’ den Gefühlen muss auf den Tisch. Und das wissen die Leute auch, die zu mir kommen.“

Dann erzählt der Vater von einer Begegnung auf der Straße: „Da kam einer aus dem Ort vorbei, der fragte, wann wir denn endlich unser zweites Kind kriegen würden, der Kleine wäre ja immerhin schon drei. Da hab’ ich gesagt: ‚Wir haben ein zweites Kind.‘ Und auf die Frage ‚Wo denn?‘ habe ich geantwortet: ‚Auf dem Friedhof.‘ Da fiel dem die Kinnlade runter.“

Für solche Situationen will Helga Schmidtke sensibel machen: „Es gibt ja dieses Ammenmärchen, dass man als Paar erst nach der 12. Schwangerschaftswoche sagen soll, dass man ein Kind erwartet.“ Denn erst dann wäre die unsichere Phase vorbei. „Das stimmt aber nicht“, sagt sie weiter. „Es kann immer was passieren.“ Aber die Frage sei ja: Wieso sollen die Leute um einen herum nicht schon früher wissen, dass man schwanger ist? Denn wenn eine Frau das Kind in der frühen Schwangerschaft verliert, könne das Umfeld oft gar nicht verstehen, warum sie sich verändere, warum sie traurig sei und zurückgezogen. Helga Schmidtke spricht aus eigener Erfahrung. Sie hat zwei erwachsene Kinder. Ein Sternenkind hat sie selbst nicht, aber sie ist dreifache Sternenkinderoma.

2914 totgeborene Kinder gab es im Jahr 2016 in Deutschland. Das schreibt das Statistische Bundesamt (Destatis). Als totgeborene Kinder werden Kinder bezeichnet, die bei der Geburt keine Lebenszeichen zeigen – das heißt, deren Herz nicht schlägt und die nicht von alleine atmen – und die ein Geburtsgewicht von mindestens 500 Gramm haben. Alle Kinder, die mit weniger Gewicht tot geboren werden, werden statistisch nicht nachgewiesen. Die Medizin spricht bei der Geburt eines toten Kindes mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm von einer Fehlgeburt. Sie sind Stillgeborene. Sie sind Sternenkinder.

Der Wendepunkt in ihrem Leben

Zum Sternenkinderzentrum Odenwald können Eltern zu jedem Zeitpunkt kommen. „Nicht unbedingt mehr schwangere Frauen verlieren ihr Kind als noch vor zehn Jahren, sie wissen einfach öfter über unser Angebot Bescheid und melden sich“, erklärt Helga Schmidtke. Und das sei wichtig. „Ab der Verschmelzung von Ei und Samenzelle ist es für mich ein Kind“, sagt sie.„Auch wenn dieses Kind in einem frühen Stadium der Schwangerschaft stirbt, ist das für die Eltern schlimm. Sie verlieren ihr Kind.“ Schmidtke und ihre elf Kolleginnen und Kollegen kümmern sich um die Familien. Es gibt Trauerbegleiter in den vier Landkreisen Darmstadt, Gernsheim, Erbach und Reinheim, Geburtsbegleiterinnen und zwei Bestatterinnen, darunter Helga Schmidtke.

Auf ihrem linken Ringfinger ist ein Kreuz mit einem Mond darüber tätowiert. „Das ist Lilith“, sagt sie. Um Lilith ranken sich viele Legenden: Sie soll die erste Frau Adams gewesen sein oder ein Mischwesen aus Frau und Schlange, das Eva den Apfel gereicht hat. Helga Schmidtke hat sich ihr Geburtshoroskop legen lassen. Darin spiele Lilith eine Rolle, als die Frau, die die toten Kinder hole. Für die 46-Jährige war diese Urfrau deswegen ein Hinweis, was sie tun soll in ihrem Leben. „Niemand kommt an seinem Lebensjob vorbei“,
sagt sie.

Die Wiege dient als Bettchen nach der stillen Geburt, später als Sarg. Ein betroffener Vater schreinert die kleinen Holzsärge für das Sternenkinderzentrum Odenwald. | Foto: Sarah Seifen
Die Wiege dient als Bettchen nach der stillen Geburt, später als Sarg.
Die kleinen Holzsärge stammen von Ute Beetz von "UrnArt" in Hanau.
Foto: Sarah Seifen

Eine Ausbildung zur Sternenkindbestatterin gibt es nicht. „Die Bezeichnung ‚Sternenkindbestatterin‘ kommt von mir“, sagt Schmidtke. Im Januar 2015 hat sie den Verein „Sternenkinderzentrum Odenwald“ gegründet. „Da war ich an einem Punkt, an dem ich gemerkt habe, ich muss etwas Neues machen mit meinem Leben“, erzählt sie. Beruflich musste eine Veränderung her. Der Bereich ihrer Arbeit blieb dabei gleich: Seit ihrem Schulabschluss kümmert sie sich um Menschen. Mit 17 Jahren ging es für die gebürtige Lautertalerin als Ehrenamtliche im Rettungsdienst los. Dann wurde sie Krankenschwester. „2009 kam der erste Wendepunkt.“

Alles begann damit, dass Helga Schmidtke in ihrem Freundeskreis den schwerkranken Jungen Julien hatte. „Rückblickend ist er mein größter Lehrmeister gewesen“, erzählt sie. „Als es ihm ganz schlecht ging, saß ich einmal an seinem Bett und habe gesagt: Wenn du aufwachst, dann kündige ich meinen Job und gehe zum Hospiz.“ Er wachte auf. Sie kündigte noch in der Nacht ihren Beruf als Krankenschwester. „Ich sollte im ambulanten Kinderintensivpflegedienst speziell für Julien zuständig sein. Ich machte die Fachausbildung und am 1.1.2010 begann ich zu arbeiten. Am 2.1. starb der Junge, da war ich quasi arbeitslos.“ Aber Helga Schmidtke konnte im ambulanten Hospizdienst bleiben und betreute Familien mit schwerkranken Kindern und Jugendlichen. „Ich hatte Angst vor sterbenden Kindern, ich hab’ mich vor trauernden Eltern gedrückt. Da war die Hospizarbeit eine große Herausforderung für mich. Und heute sitze ich hier und rede über Sternenkinderbestattungen.“

Am Morgen hatte Helga Schmidtke noch eine Beerdigung. Ihre Aufgaben sind dabei nicht viel anders als die eines normalen Bestattungsunternehmers. Sie organisiert viel: Behördengänge, die Trauerfeier, die Überführung des Leichnams zum Friedhof, den Blumenschmuck in der Leichenhalle, ein Kreuz für das Grab. Doch es gibt einen großen Unterschied: Den Sarg, den sie bei der Bestattung in die Erde lässt, kann sie auf ihren Händen tragen. Er ist nicht einmal einen halben Meter lang.

Die Sternenkindbestatterin lebt für ihren Beruf. Die Arbeit erfüllt sie. Doch es gibt Grenzen: „Ich komme aktuell aus einer Begleitung, die ich abbrechen musste, weil ich das ein Stück weit nicht mehr schaffe. Wenn es um Schwangerschaftsabbrüche geht, das ist wider mein Weltbild.“

Helga Schmidtke glaubt an eine Ordnung, dass alles einen Sinn hat und jedes Leben lebenswert ist. Nach der Diagnose einer Behinderung bei einem ungeborenen Kind das Kind nicht zu wollen, das ist für sie unverständlich. Widersinnig. „Die Eltern werden zu wenig informiert darüber, was nach der Pränataldiagnostik passiert. Die machen sich dann keine Gedanken darüber, was ist, wenn wirklich etwas festgestellt wird.“

Nach einer Begleitung habe die Mutter eines abgetriebenen Kindes mit festgestelltem Down-Syndrom gesagt: „Hätten wir es bloß nie vorher erfahren. Dann würde unser Baby jetzt leben.“ Die Stimme von Helga Schmidtke ist gefestigt, wenn sie davon spricht: „Diese Begleitung mache ich dann nur für das Kind, um ihm diese Würde zu erweisen. Das kostet schon Kraft.“

Eine Begleiterin braucht Begleitung

Und froh ist sie, dass sie jemanden hat, der sie begleitet: „Mein Mann, der ist so tiefenentspannt und mein Ruhepol.“ Und dann gibt es Daniel Kretsch. Er ist Kaplan im Pfarreienverbund Bensheim. „Wir arbeiten eng zusammen an der Bergstraße. Sein erster Job hier im Sommer 2017 war eine Sternenkindbestattung mit mir“, erzählt sie.
Mittlerweile leitet der Priester einen Seelsorgekurs für die angehenden Sternenkindbegleiterinnen und Sternenkindbegleiter im Ausbildungskurs „Stillbirth-Care“ des Sternenkinderzentrums Odenwald. „Daniel hat mal gefragt: ‚Hast du da auch Seelsorge mit drin?‘ Seitdem macht er das. Das ist super!“, sagt Helga Schmidtke.

Für Daniel Kretsch ist das Sternenkinderzentrum ein großer Gewinn: „Trauernde trösten und Tote begraben gehören zu den Grundaufgaben der Seelsorge“, sagt der Kaplan. Vor allem in extremen Situationen, wie dem Verlust eines Kindes, komme die klassische Trauerbegleitung oft an ihre Grenzen. „Es ist es gut, dass es jemanden gibt, der Menschen, vor allem Eltern und Geschwister, in diesen schlimmen Stunden auf einfühlsame Weise begleiten kann.“ Helga Schmidtke kann mit dem Priester ihre Sorgen und Ängste in ihrem Beruf besprechen. Er ist ihr geistlicher Begleiter. „Da ist oft ein innerer Kampf. Da muss Daniel viel aushalten.“

Ob sie an Gott glaubt? „Klar, das ist mein Chef. Der macht nur manchmal blöde Dienstpläne“, antwortet sie prompt. Und schon klingelt auch das Handy wieder. Eine Floristin ruft an, es geht um die Bestattung in zwei Tagen. „Der Sarg ist bunt. Von den Geschwistern bemalt. Ich ziehe Hanna morgen an und bette sie um ... Das Kreuz ist rosa, mit rosa und lila Sternen, die Kerze auch. So in der Richtung würde ich dann auch die Blumen machen ... Ich bringe auch noch Teelichter mit.“

Die 46-Jährige behält den Überblick. Das ist eine ihrer Stärken. Und sie könne unvoreingenommen auf Menschen zugehen. „Ja, Randgruppen begleiten kann ich gut.“ Dann ist es egal, ob es Christen sind, Atheisten oder Buddhisten. Ein erstes Gespräch führt sie mit allen und lässt sich auf sie ein. „Gott ist immer präsent in meiner Arbeit, aber nicht immer sichtbar für mein Gegenüber.“

Infos im Internet auf www.sternenkinderzentrum-odenwald.de oder per E-Mail: info@die-sternenkinderbestatterin.de
Die kleinen Sternenkindersärge in Form einer Wiege stammen von Ute Beetz von UrnArt in Hanau: www.urnart.de